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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 [822] Tolstoi und Herzen* (Ein unveröffentlichter Vortrag) ... die Slawophilen begegneten der gottlosen Philosophie Feuerbachs mit Entrüstung, aber die fortschrittlichen Westler – darunter auch Herzen – brachten ihr größte Sympathie entgegen. Da wir heute nicht über die Slawophilen sprechen, sondern über Herzen, werden wir uns auch nicht mit der slawophilen, sondern mit der westlerischen Moral zu beschäftigen haben. Übrigens werden wir hier teils auch auf die Slawophilen zu sprechen kommen, weil die weltliche Moral des Westlers Herzen besonders glanzvoll und kraftvoll in seinem interessanten Disput mit dem slawophilen Theologen Samarin in Erscheinung trat. Dieser Disput fällt in den Herbst des Jahres 1864. 1* J. F. Samarin warf Herzen vor, durch seine Verbreitung des Materialismus und Atheismus die junge Generation in sittlicher Hinsicht verderbt zu haben. Fest überzeugt von der Notwendigkeit einer religiösen Sanktion der Moral, behauptete Samarin, ein Mensch, der sich als eine bloße „Anhäufung von Atomen“ betrachtet, sei unfähig zur Selbstaufopferung. 2* Herzen wies diesen Vorwurf zurück und sagte, man könne der Märtyrergeschichte des Christentums die Märtyrergeschichte der Revolution mit Erfolg gegenüberstellen. Auszug aus dem „Kolokol“. 3* Dann schrieb er, selbst zum Angriff übergehend: „Sie halten es z. B. für inkonsequent, daß ein Mensch, der nicht an das zukünftige Leben glaubt, für das gegenwärtige Leben seines Nächsten eintritt. Mir dagegen scheint, daß nur ihm das zeitliche Leben, eigenes wie fremdes, teuer sein kann; er weiß, daß es für den existierenden Menschen nichts Besseres geben wird als dieses Leben, und hat Mitgefühl mit jedem, der sich selbst zu erhalten bestrebt ist. Vom theologischen Standpunkt aus stellt sich der Tod durchaus nicht als so ein Übel dar; die religiösen Menschen brauchten das Gebot ‚Du sollst * Anmerkungen zu: Tolstoi und Herzen (S. 822-832) am Ende des Kapitels. 1* Der Disput fand in London am 21. Juli 1864 statt, die Gegner konnten sich nicht einigen, und vereinbarungsgemäß beschloß Herzen, die Polemik brieflich fortzusetzen. Dementsprechend erschienen im „Kolokol“ (in Nr. 191 vom 15. November 1864, in Nr. 193 vom 1. Januar 1865 und in Nr. 194 vom 1. Februar 1865) drei „Briefe an den Gegner“. Herzen schickte den ersten Brief vom 29. Juli 1864 an Samarin und bat ihn um die Erlaubnis, den Brief drucken zu lassen, ohne den Namen seines „Gegners“ zu nennen. Samarin gab Herzen dazu seine Einwilligung, aber er lehnte den Vorschlag einer eventuellen Antwort im „Kolokol“ wegen der prinzipiellen Verschiedenheit seiner Ansichten und der Ansichten Herzens ab. In dem Brief vom 3. August 1864, der vor dem Empfang des ersten Briefes durch Herzen abgeschickt wurde, warf Samarin von neuem vor Herzen die Frage der Verantwortlichkeit, der gerichtlichen Verurteilung und der Bestrafung auf, die von ihnen bei ihrem Zusammentreffen erörtert worden war. Der Brief Samarins wurde erstmals abgedruckt in der Zeitung „Rusj“ (1883, Nr. 1) und dann nochmals gedruckt in der Gesamtausgabe der Werke Herzens unter der Redaktion von M. K. Lemke, Bd. XVII, S. 319-327. 2* Der Ausdruck „Der Mensch ist eine Anhäufung von Atomen“ findet sich in den Briefen Samarins an Herzen nicht; offenbar wurde er von ihm in dem mündlichen Streit gebraucht. Herzen aber bringt ihn wieder in seinem ersten „Brief an den Gegner“. 3* Plechanow bezieht sich hier auf folgende Stelle – aus dem ersten „Brief an den Gegner“ von Herzen im „Kolokol“: „Was geht es Sie an, daß neben dem Martyrologium des Christentums ein Martyrologium der Revolution steht? Die Geschichte zeigt Ihnen, wie Heiden und Christen, Menschen, die an ein Leben im Jenseits glaubten, und solche, die nicht daran glaubten, gleichermaßen gestorben sind für ihre Überzeugung, für das, was sie für das Gute, die Wahrheit hielten oder was sie einfach liebten... Aber Sie werden immer wieder sagen, daß ein Mensch, der sich für eine Anhäufung von Atomen hält, sich nicht aufopfern kann, während ein Mensch, der seinen Leib für eine zwar kunstvolle, aber doch verächtliche Hülle der Seele hält, sich von Rechts wegen zum Opfer bringt – und das ungeachtet dessen, daß die Geschichte durchaus nicht beweist, die Materialisten des Jahres 1793 seien besondere Feiglinge, die berufsmäßigen Gläubigen dagegen – die Pfaffen und die Mönche – besonders auf Selbstaufopferung und Heroismus erpicht gewesen...“ (Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 574/575, deutsch.) 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 nicht töten‘, um es zu unterlassen, andere Menschen von ihrem sündigen Leib zu erlösen; der Tod erweist dem Menschen eigentlich eine Gefälligkeit, indem er ihn [823] schneller ins ewige Leben befördert. Die Sündhaftigkeit des Mordes besteht durchaus nicht in dem Akt der Tötung des Fleisches, sondern in der eigenwilligen Beförderung des Patienten in einen höheren Rang.“ 1 Schon dieses Bruchstück vermittelt eine ziemlich klare Vorstellung von der Ansicht Herzens in dieser Frage, die, wie wir gesehen haben, Tolstoi so sehr interessiert hat – die Frage der Gerichte. Bemerkenswerterweise zieht es der gottlose Materialist Herzen vor, die Angeklagten freizusprechen, während der gottesfürchtige Samarin zur „Erkennung auf Schuld und Strafe“ neigte. 2 Diese lehrreiche Antinomie verschärft sich bis zu einem Grade, wo sie Herzen veranlaßt, dem Gegner, in Form einer Frage, die in logischem und moralischem Sinne wunderbar feine Bemerkung zukommen zu lassen: Wer hat Sie eigentlich zur Teilnahmslosigkeit am Schicksal der Angeklagten beauftragt? Freilich kann man mir entgegenhalten, daß der Disput zwischen H[erzen] und S[amarin] im Jahre 1864 geführt wurde, d. h. unter dem unmittelbaren Eindruck des polnischen Aufstandes 3* und der Verbannung Tschernyschewskis 4* , und daß H[erzen], indem er von seinem Gegner Anteilnahme am Schicksal der zum Tode Verurteilten oder in die Verbannung Geschickten forderte, Menschen in Schutz nahm, deren Lager er sich selbst so oder so, d. h. vollständig oder mit gewissen Vorbehalten, anschloß. Ich verstehe sehr wohl, daß uns das Mitgefühl eines Menschen für seine leidenden Gesinnungsgenossen noch keine Gewähr für seine humane Haltung gegenüber durchweg allen Menschen bietet. Aber das ist es ja gerade, H[erzen] hat, indem er die Angeklagten in Schutz nahm, nicht nur seine Gesinnungsgenossen verteidigt. Durch das Auftreten gegen Samarin hat er seinem Disput mit ihm einen breiten Rahmen gegeben, und indem er das Strafgericht der Regierung gegen die sog[enannten] politischen Verbrecher rundweg verurteilte, hat er die Frage nach Schuld und Sühne überhaupt aufgeworfen. „Sie fragen mich sogar“, schrieb er an Samarin, „durch welche mora-[824]lischen Strafen ich die körperlichen ersetzen will und ob Gefängnis, Verbannung usw. nicht körperliche Strafen sind – als ob ich je die Absicht gehabt hätte, wie der Fürst Tscherkasski, weltliche und geistliche, Kinder- oder Greisenruten und ihre Äquivalente zu erfinden... ‚Wollen Sie die Cholera ausrotten?‘ ‚Zweifellos.‘ ‚Aber durch welche Seuche wollen Sie sie ersetzen? Und wird die neue Seuche auch leichter sein?‘ Auf eine solche Frage wird kein Arzt eine Antwort finden. Stockprügel und Gefängnis, ge- 1 [Das Zitat ist dem ersten der „Briefe an einen Gegner“ entnommen; A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 575/76, deutsch.] 2 Wir bringen die Variante zu dieser Stelle. „... schon dieses Bruchstück gibt ihnen eine recht klare Vorstellung von den praktischen Schlußfolgerungen, die sich aus dem gottlosen philosophischen Humanismus ergaben, dessen überzeugter Anhänger Herzen war. Dieser philosophische Humanismus erweist sich als human in der üblichen praktischen Bedeutung dieses Wortes, d. h. im Sinne der Achtung vor der menschlichen Würde und der Anteilnahme an den menschlichen Leiden. Der ‚Materialist‘ Herzen zieht den Freispruch vor, während der gottesfürchtige Samarin mehr zur Erkennung auf Schuld und Strafe neigte. Feuerbachs Worte ‚Meine Philosophie‘ etc.“* Red. L. N. – [* Vollständig heißt das Zitat aus Feuerbach: „Meine Philosophie ist keine Philosophie.“] 3* Der polnische Aufstand begann im Jahre 1863 und wurde 1864 von dem bekannten M. N. Murawjow, dem Henker, grausam unterdrückt. 4* Tschernyschewski wurde am 7. Juli (a. St.) 1862 verhaftet und am 20. Mai (a. St.) 1864 in die Verbannung geschickt. 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

nicht töten‘, um es zu unterlassen, andere Menschen von ihrem sündigen Leib zu erlösen; der<br />

Tod erweist dem Menschen eigentlich eine Gefälligkeit, indem er ihn [823] schneller ins<br />

ewige Leben befördert. Die Sündhaftigkeit des Mordes besteht durchaus nicht in dem Akt der<br />

Tötung des Fleisches, sondern in der eigenwilligen Beförderung des Patienten in einen höheren<br />

Rang.“ 1 Schon dieses Bruchstück vermittelt eine ziemlich klare Vorstellung von der Ansicht<br />

Herzens in dieser Frage, die, wie wir gesehen haben, Tolstoi so sehr interessiert hat –<br />

die Frage der Gerichte. Bemerkenswerterweise zieht es der gottlose Materialist Herzen vor,<br />

die Angeklagten freizusprechen, während der gottesfürchtige Samarin zur „Erkennung auf<br />

Schuld und Strafe“ neigte. 2<br />

Diese lehrreiche Antinomie verschärft sich bis zu einem Grade, wo sie Herzen veranlaßt, dem<br />

Gegner, in Form einer Frage, die in logischem und moralischem Sinne wunderbar feine Bemerkung<br />

zukommen zu lassen: Wer hat Sie eigentlich zur Teilnahmslosigkeit am Schicksal<br />

der Angeklagten beauftragt?<br />

Freilich kann man mir entgegenhalten, daß der Disput zwischen H[erzen] und S[amarin] im<br />

Jahre 1864 geführt wurde, d. h. unter dem unmittelbaren Eindruck des polnischen Aufstandes 3*<br />

und der Verbannung Tschernyschewskis 4* , und daß H[erzen], indem er von seinem Gegner<br />

Anteilnahme am Schicksal der zum Tode Verurteilten oder in die Verbannung Geschickten<br />

forderte, Menschen in Schutz nahm, deren Lager er sich selbst so oder so, d. h. vollständig oder<br />

mit gewissen Vorbehalten, anschloß. Ich verstehe sehr wohl, daß uns das Mitgefühl eines Menschen<br />

für seine leidenden Gesinnungsgenossen noch keine Gewähr für seine humane Haltung<br />

gegenüber durchweg allen Menschen bietet. Aber das ist es ja gerade, H[erzen] hat, indem er<br />

die Angeklagten in Schutz nahm, nicht nur seine Gesinnungsgenossen verteidigt. Durch das<br />

Auftreten gegen Samarin hat er seinem Disput mit ihm einen breiten Rahmen gegeben, und<br />

indem er das Strafgericht der Regierung gegen die sog[enannten] politischen Verbrecher rundweg<br />

verurteilte, hat er die Frage nach Schuld und Sühne überhaupt aufgeworfen.<br />

„Sie fragen mich sogar“, schrieb er an Samarin, „durch welche mora-[824]lischen Strafen ich<br />

die körperlichen ersetzen will und ob Gefängnis, Verbannung usw. nicht körperliche Strafen<br />

sind – als ob ich je die Absicht gehabt hätte, wie der Fürst Tscherkasski, weltliche und geistliche,<br />

Kinder- oder Greisenruten und ihre Äquivalente zu erfinden...<br />

‚Wollen Sie die Cholera ausrotten?‘<br />

‚Zweifellos.‘<br />

‚Aber durch welche Seuche wollen Sie sie ersetzen? Und wird die neue Seuche auch leichter<br />

sein?‘<br />

Auf eine solche Frage wird kein Arzt eine Antwort finden. Stockprügel und Gefängnis, ge-<br />

1 [Das Zitat ist dem ersten der „Briefe an einen Gegner“ entnommen; A. I. Herzen, Ausgewählte philosophische<br />

Schriften, Moskau 1949, S. 575/76, deutsch.]<br />

2 Wir bringen die Variante zu dieser Stelle.<br />

„... schon dieses Bruchstück gibt ihnen eine recht klare Vorstellung von den praktischen Schlußfolgerungen, die<br />

sich aus dem gottlosen philosophischen Humanismus ergaben, dessen überzeugter Anhänger Herzen war. Dieser<br />

philosophische Humanismus erweist sich als human in der üblichen praktischen Bedeutung dieses Wortes, d. h. im<br />

Sinne der Achtung vor der menschlichen Würde und der Anteilnahme an den menschlichen Leiden. Der ‚Materialist‘<br />

Herzen zieht den Freispruch vor, während der gottesfürchtige Samarin mehr zur Erkennung auf Schuld und<br />

Strafe neigte. Feuerbachs Worte ‚Meine Philosophie‘ etc.“* Red. L. N. – [* Vollständig heißt das Zitat aus Feuerbach:<br />

„Meine Philosophie ist keine Philosophie.“]<br />

3* Der polnische Aufstand begann im Jahre 1863 und wurde 1864 von dem bekannten M. N. Murawjow, dem<br />

Henker, grausam unterdrückt.<br />

4* Tschernyschewski wurde am 7. Juli (a. St.) 1862 verhaftet und am 20. Mai (a. St.) 1864 in die Verbannung geschickt.<br />

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