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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Das ist verständlich: Tolstoi konnte gar keine andere Ansicht vom Volke haben. Wer den<br />

„Geist“ dem „Körper“, das „Ewige“ dem „Vergänglichen“ gegenüberstellt, dem sind die<br />

brennendsten Fragen des gesellschaftlichen Lebens nur insoweit interessant, als sie seine religiöse<br />

Glaubensmeinung betreffen. Wir, die die Rechtmäßigkeit der genannten Gegenüberstellung<br />

ganz und gar bestreiten, sind uns einig, daß sich hier [821] in die Erwägungen Tolstois<br />

eine falsche Verallgemeinerung eingeschlichen hat. Unser großer Künstler hat sich schwer<br />

getäuscht, als er annahm, daß die werktätige Masse ihren Leiden und Entbehrungen immer<br />

und überall mit der ruhigen und festen Überzeugung gegenübersteht, daß all das so sein muß<br />

und nicht anders sein kann, daß das alles „gut“ sei. So verhält sie sich jedoch nur unter gewissen<br />

gesellschaftlichen Bedingungen, die eine sehr beträchtliche Rückständigkeit ihres<br />

Selbstbewußtseins mit sich bringen. Aber das Selbstbewußtsein ändert sich mit der Veränderung<br />

der gesellschaftlichen Verhältnisse. Allmählich löst sich die Masse von jenem Quietismus,<br />

der ihr die leidenschaftlichen Sympathien Tolstois zugezogen hatte. Die in der Industrie<br />

beschäftigte Arbeiterklasse reagiert auf ihre Entbehrungen und Leiden durchaus nicht so wie<br />

der Bauer der guten alten Zeit. Als Tolstoi sagte: das „Volk“, da meinte er aber den Bauern<br />

der guten alten Zeit, wie er ihm in der Gestalt des alles erduldenden und alles verzeihenden<br />

Platon Karatajew (in „Krieg und Frieden“) <strong>erschien</strong>. Der Proletarier unserer Zeit hat mit Platon<br />

Karatajew nicht die geringste Ähnlichkeit. Deshalb betrachtete Tolstoi den modernen<br />

Proletarier als einen beklagenswerten Irrtum im Gang der gesellschaftlichen Entwicklung.<br />

Wäre er fähig gewesen, sich ernsthaft für das gesellschaftliche Leben zu interessieren und<br />

tätigen Anteil zu nehmen, so hätte er ganz bestimmt mit dem Versuch begonnen, das Rad der<br />

Geschichte zurückzudrehen. Seine „weltliche“ Anteilnahme – und eine solche Anteilnahme<br />

ist immer vorhanden, auch bei einem Menschen, dessen Blick offenbar nur am Ewigen haftet<br />

– war in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft gerichtet. Er verneinte nicht die ganze<br />

Vergangenheit, sondern nur eine ihrer Seiten, und diese Verneinung einer Seite der Vergangenheit<br />

wurde bei ihm durch die Idealisierung der anderen Seite ergänzt. Die „Umwälzung“,<br />

die sich zu Beginn der achtziger Jahre in ihm vollzog und deren Keime schon lange in seinem<br />

Innern herangereift waren, erleichterte ihm nicht das Verständnis der Zukunft – es machte<br />

ihm ein Verstehen ganz unmöglich. Und darum muß man sich über die Naivität des P. Sch. 1*<br />

wundern, der in Nr. 8 der „Kiewskaja Mysl“ dieses Jahres (siehe den Artikel „Dem Gedenken<br />

des Einsamen“) versichert, das „Wort“ Tolstois sei an die fernen Generationen gerichtet und<br />

werde bestimmt zu ihnen gelangen. Mag es nun wirklich dahin gelangen; aber nicht eher, als<br />

unser Planet, den sehr viel Wahrscheinlichkeit beanspruchenden Voraussagen einiger Naturforscher<br />

zufolge, beginnen wird, sich dem Verfall zuzuneigen, und die Menschheit in ihrer<br />

Rückwärtsentwicklung sich wieder jenem Zustand nähern wird, in dem sich einst das Rußland<br />

der Leibeigenschaft befunden hat. Und unter dieser Bedingung sind die Voraussagen des<br />

sentimentalen P. Sch. ein recht zweifelhaftes Kompliment.<br />

Anmerkungen<br />

Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der Zeitung „Swesda“ (1911, Nr. 11 vom 26. Februar,<br />

Nr. 12 vom 5. März, Nr. 13 vom 12. März und Nr. 14 vom 19. März); hier wird der Text<br />

der Gesamtausgabe der Werke (Bd. XXIV, S. 234-249) gedruckt.<br />

1* P. Sch. ist der Schriftstellername des Publizisten Pjotr Abramowitsch Wilenski (geb. am 5. Dezember 1882 in<br />

Ronmy, Gouvernement Poltawa), der auch in der Zeitschrift „Kiewskaja Mysl“ unter dem bekannteren Pseudonym<br />

Pjotr Schubin geschrieben hat.<br />

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