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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

der Oberfläche haften: Er konnte der Argumentation Tolstois zeitweise eine andere Form<br />

geben, aber an seiner Weltanschauung vermochte er nicht das geringste zu ändern. Warum ist<br />

die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu verurteilen? – Um das zu verstehen,<br />

muß man sich erinnern, wie Tolstoi in der Broschüre „An das arbeitende Volk“ seine Lehre<br />

verteidigt, derzufolge man sich dem Übel nicht gewaltsam widersetzen dürfe. Er rät den Arbeitern,<br />

an Gewalttaten nicht teilzunehmen, „nicht weil sie für die Arbeiter nachteilig sind<br />

und ihre Unterjochung verursacht, sondern weil die Beteiligung daran eine schlechte Handlung<br />

ist, von der jedermann sich fernhalten muß“ (S. 22). Wenn aber die betreffenden Handlungen<br />

der Menschen schlecht sind, nicht weil sie die Interessen ihrer Mitmenschen schädigen<br />

– um bei dem von Tolstoi selbst gewählten Beispiel zu bleiben, will ich sagen: nicht weil<br />

sie zur Versklavung der einen Klasse durch die andere führen –‚ sondern nur, weil sie an und<br />

für sich schlecht sind, wo ist dann das Kriterium für Gut und Böse? Auf diese Frage gibt<br />

Tolstoi eine Antwort, die mit seiner ganzen Weltanschauung völlig übereinstimmt: sie gründet<br />

sich auf die Gegenüberstellung von „Geist“ und „Körper“, „Ewigem“ und „Vergänglichem“,<br />

„Weltlichem“. Das Kriterium für Gut und Böse verdankt seine Entstehung nicht der<br />

Erde, sondern dem Himmel, nicht den Menschen, sondern dem höchsten Wesen.<br />

„Das Leben der Welt vollzieht sich nach jemandes Willen“, lehrt Tolstoi, „jemand vollbringt<br />

mit diesem Leben der ganzen Welt und mit unserm Leben ein ihm eigentümliches Werk. Will<br />

man die Hoffnung haben, den Sinn dieses Willens zu begreifen, so muß man ihn vor allem<br />

[820] erfüllen, das tun, was man von uns will. Und wenn ich nicht tue, was man von mir will,<br />

so werde ich auch nie begreifen, was man von mir will; und noch weniger, was man von uns<br />

allen und von der ganzen Welt verlangt.“ 1<br />

Die Keime dieser Stellung zu den Fragen der Moral wurzelten natürlich ebenfalls in den<br />

früheren Anschauungen Tolstois, zum Beispiel in der, durch die die oben angeführte Äußerung<br />

über den Narren in Christo, Grischa, diktiert wurde. Das ist verständlich: als der Christ<br />

in Tolstoi den Sieg über den Heiden davongetragen hatte, konnte der große Schriftsteller der<br />

russischen Erde nicht mehr an der Richtigkeit einer solchen Haltung zweifeln. Er hatte endgültig<br />

entschieden, daß man das Kriterium für Gut und Böse nicht auf der Erde, sondern im<br />

Himmel suchen müsse. Anderseits ist auch verständlich, daß Tolstoi, einmal zu dieser endgültigen<br />

Entscheidung gelangt, das Leben des werktätigen Volkes als ein Leben betrachten<br />

mußte, das von tiefstem Sinn erfüllt ist.<br />

Man darf sich nicht täuschen. Was Tolstoi das Leben des Volkes vor allem so reizvoll machte,<br />

war nicht die Tatsache, daß das Volk von seiner Hände Arbeit lebte, sondern daß diese<br />

Arbeit durch den religiösen Glauben geheiligt wurde. Tolstoi sagt: „Und ich blickte immer<br />

tiefer und tiefer in das Leben und den Glauben dieser Leute hinein, und je tieferen Einblick<br />

ich hatte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, daß sie einen wirklichen Glauben hatten,<br />

daß ihr Glaube für sie unentbehrlich sei, daß er allein ihnen den Sinn des Lebens und die<br />

Möglichkeit des Lebens gibt. Im Gegensatz zu dem, was ich in unserem Kreise gesehen hatte,<br />

wo ein Leben ohne Glauben möglich ist und wo von Tausenden kaum einer sich für gläubig<br />

hielt, ist in ihrem Kreise kaum ein Nichtgläubiger auf tausend. Im Gegensatz zu dem, was ich<br />

in unserem Kreise gesehen hatte, wo das ganze Leben in Müßiggang, Genüssen und Lebensüberdruß<br />

hingeht, sah ich, daß das ganze Leben dieser Menschen in schwerer Arbeit hingeht<br />

und sie mit dem Leben zufrieden sind. Im Gegensatz zu den Menschen unseres Kreises, die<br />

um der Entbehrungen und Leiden willen gegen das Schicksal grollen und sich dagegen auflehnen,<br />

nahmen diese Menschen Krankheit und Kummer ohne jede Regung des Zweifels,<br />

ohne Widerstreben hin, in der ruhigen, festen Überzeugung, daß all dies – gut sei.“ 2<br />

1 „Beichte“, S. 45.<br />

2 Ebenda, S. 42.<br />

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