18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Diese Zeilen sind in einer Zeit geschrieben worden, wo Tolstoi, wie er sagt, ungläubig war.<br />

Ich weiß, daß sich der Verfasser hier nicht selbst darstellt; aber, die Frage außer acht lassend,<br />

in welchem Maße „Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre“ autobiographische Bedeutung<br />

haben, behaupte ich, daß diese Zeilen nicht einer geschrieben haben kann, der sich wirklich<br />

von der [818] christlichen Religion losgelöst hat. Das Christentum hatte Tolstoi seine asketische<br />

Lebensanschauung vermittelt, und diese Anschauung gab er auch dann nicht auf, als er<br />

zu einem übrigens recht oberflächlichen Unglauben neigte. Und dabei liebte er das Leben und<br />

alle seine gesunden Erscheinungen mit unbändiger Leidenschaft. 1 Seine übermäßige Lebensfreude<br />

trat sowohl in der ihn ständig quälenden Angst vor dem Tode in Erscheinung als auch<br />

in der unwiderstehlichen, hinreißenden Art und Weise, mit der er Ereignisse schildert wie die<br />

Ballvorbereitungen der Natascha Rostowa, die Schlittenfahrt der festlich geputzten Weihnachtsgesellschaft<br />

oder – um ein Beispiel aus einem anderen Werk zu bringen – die Lebenslust<br />

des jungen Fohlens („Leinwandmesser“) Aber die Lebensfreude widerspricht der christlich-asketischen<br />

Verneinung des Lebens. Und dieser Widerspruch machte sich bei Tolstoi<br />

spürbar, als er seine unsterblichen Romane schrieb. Der Christ, in dessen Augen das Leben<br />

des Menschen auf Erden nur eine mehr oder weniger bequeme Etappe auf dem Weg zum<br />

Himmel reich ist, kämpfte in ihm gegen den Heiden, dem dieses Leben „von Sinn erfüllt <strong>erschien</strong>“.<br />

Zeitweise gewann der Heide die Oberhand über den Christen: Tolstoi gab sich begeistert<br />

dem künstlerischen Schaffen hin. Aber der Christ blieb in ihm stets lebendig: das<br />

religiöse Streben des großen Künstlers drückte den Bestrebungen des Pierre Besuchow in<br />

„Krieg und Frieden“ deutlich seinen Stempel auf, und die christliche Geringschätzung der<br />

sündhaften „weltlichen“ Interessen der Menschheit fand ihren Ausdruck in der egoistischen<br />

wunderlichen Art des Konstantin Lewin in „Anna Karenina“. Dann kam die Zeit, wo der<br />

Christ endgültig über den Heiden triumphierte. Von welcher Stimmung Tolstoi damals ergriffen<br />

wurde, ist aus folgenden Zeilen seiner „Beichte“ zu ersehen: „Jetzt wußte ich bestimmt,<br />

daß mein Leben keinerlei Sinn hatte und haben konnte, und die Glaubenssätze <strong>erschien</strong>en mir<br />

nicht nur nicht unnütz, ich war vielmehr durch unzweifelhafte Erfahrung zu der Überzeugung<br />

gekommen, daß nur diese Glaubenssätze dem Leben einen Sinn geben“ (S. 151). Wenn das<br />

Leben an sich keinerlei Sinn hat, wenn „nur diese Glaubenssätze dem Leben einen Sinn geben“,<br />

so ist klar, daß auch die in „Krieg und Frieden“ so sympathisch dargestellte freudige<br />

Erregung der Natascha bei den Vorbereitungen zum Ball oder die grenzenlose Lebensfreude,<br />

von der dieselbe Natascha auf der Jagd ergriffen wurde, wo sie vor lauter Übermut wild zu<br />

schreien begann, völlig sinnlos ist. Wenn aber jede Lebensfreude an und für sich keinen Sinn<br />

hat, so ist auch ihre künstlerische Darstellung sinnlos. So mußte Graf Tolstoi [819] infolge<br />

des Triumphs des Christen über den Heiden in seiner Seele dahin gelangen, sein früheres<br />

künstlerisches Schaffen mit aller Strenge zu verwerfen.<br />

VII<br />

Nun sehen wir, daß die Abneigung des Grafen Tolstoi gegenüber dem Leben des höheren<br />

Standes, das er in seinen literarischen Kunstwerken früher so fesselnd geschildert hatte, in der<br />

Tat bereits in den früheren Anschauungen Tolstois vorgebildet war. Sie wurzelte in der<br />

christlichen Verneinung des Lebens überhaupt, sofern es nicht als Vorbereitung auf das Leben<br />

im Jenseits diente. Als Tolstoi in der Broschüre „Wie ist mein Leben?“ gegen die Damen<br />

wetterte, die in kostbaren Kleidern zum Ball fuhren, argumentierte er fast wie ein Sozialist.<br />

Sein Hauptargument war das Argument der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen,<br />

und die Tatsache, daß Tolstoi dieses Argument beharrlich immer wieder vorbringt, beweist<br />

zweifellos den starken Einfluß des Sozialismus auf ihn; aber dieser starke Einfluß blieb an<br />

1 Darin unterscheidet er sich von Dostojewski, den vor allem die krankhaften Lebensprozesse interessierten.<br />

9

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!