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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

nahme hält jedoch der Kritik nicht stand. Wie bereits oben gesagt wurde, betrachtete Tolstoi<br />

die Ausgebeuteten damals mit derselben Gleichgültigkeit wie man eine Mauer anschaut. Es<br />

unterliegt keinem Zweifel, daß der Verfasser unter allen Personen seines Romans „Anna Karenina“‘<br />

mit Konstantin Lewin am meisten sympathisiert Aber Lewin ist völlig gleichgültig<br />

gegen alles, was über die Grenzen seines Familienglücks hinausgeht. „Ich glaube, daß die<br />

treibende Kraft aller unserer Handlungen“, so sagt er, „was man auch sagen mag, in dem<br />

Streben nach unserem persönlichen Glück besteht.“<br />

Er interessiert sich nicht für die Semstwo-Verwaltung, weil er von ihr keinen persönlichen<br />

Nutzen erwarten kann. Er stellt folgende Erwägungen an: „In unseren landständischen Einrichtungen<br />

aber vermag ich als Edelmann durchaus nichts zu erblicken, was zu meinem<br />

Wohlbefinden beitragen könnte. Die Wege sind nicht besser und können nicht besser werden;<br />

meine Pferde fahren mich auch auf den schlechten Wegen. Ärzte und ärztliche Stationen<br />

brauche ich nicht. Den Friedensrichter brauche ich auch nicht – ich wende mich nie an ihn<br />

und werde es auch in Zukunft nicht tun. Schulen sind für mich ebenfalls nicht nötig, sondern<br />

eher sogar schädlich, wie ich dir schon gesagt habe. Für mich bedeuten die landständischen<br />

Einrichtungen einfach die Verpflichtung achtzehn Kopeken Abgaben für die Deßjatine zu<br />

zahlen, in die Stadt zu fahren, in Betten zu übernachten, die von Wanzen bevölkert sind, und<br />

jeglichen Unsinn und alles mögliche elende Zeug mitanzuhören – mein persönliches Interesse<br />

aber drängt mich nicht dazu.“ 1 Zwar stellt Tolstoi den umworbenen [817] Lewin als eine Art<br />

Verneiner dar; aber was verneint denn dieser wahrhaft edle „Edelmann“? Nur einige in<br />

Adelskreisen allgemein übliche Anstandsrücksichten. Das ist recht wenig, und vor allen Dingen:<br />

darin zeigt sich noch nicht das geringste Interesse für die Lage des Volkes. Also nicht in<br />

dieser Richtung hat man die Fragen zu suchen, die Tolstoi damals bewegten und die zu seiner<br />

damaligen literarischen Tätigkeit in Widerspruch standen. Wo sind sie zu suchen? Wenden<br />

wir uns wieder seiner Schrift „Beichte“ zu.<br />

VI<br />

„Früher“, so sagt er darin, „war mir das Leben selbst von Sinn erfüllt <strong>erschien</strong>en und der Glaube<br />

als eine willkürliche Behauptung gewisser mir vollkommen überflüssiger, unvernünftiger,<br />

von dem Leben losgelöster Thesen. Ich fragte mich damals, welchen Sinn diese Sätze haben<br />

können, und nachdem ich mich überzeugt, daß sie keinen haben, verwarf ich sie“ (S. 51).<br />

Hier ist vor allem Wahres von Falschem zu scheiden. Tolstoi übertreibt stark, wenn er sagt,<br />

es habe eine Zeit gegeben, wo er der Religion völlig entfremdet gewesen sei. („Als ich mit<br />

achtzehn Jahren den zweiten Lehrkursus der Universität absolvierte, glaubte ich an nichts<br />

mehr von dem, was man mich gelehrt hatte.“) In Wirklichkeit zeigt der ganze Charakter seines<br />

literarischen Schaffens der letzten Periode, daß die christliche Lehre in seinem Gemüt<br />

viel tiefere Spuren hinterlassen hatte, als er glaubte. Wie L. I. Axelrod richtig bemerkt hat, ist<br />

dies aus folgender Stelle in „Kindheit“ sehr gut zu ersehen, wo von dem Eindruck die Rede<br />

ist, den der Narr in Christo, Grischa, auf den Haupthelden der Skizze gemacht hat.<br />

„Viel Wasser ist seit der Zeit vom Berge geflossen, viele Erinnerungen an Vergangenes haben<br />

ihre Bedeutung für mich verloren und sind undeutliche Schattenbilder geworden, auch<br />

der Pilger Grischa hat längst seine letzte Pilgerreise beendet; aber der Eindruck, den er auf<br />

mich gemacht, und die Gefühle, die er in mir wachgerufen hat, werden nie aus meinem Gedächtnis<br />

schwinden. Oh, du großer Christ Grischa! Dein Glaube war so stark, daß du die Nähe<br />

Gottes empfandest; deine Liebe war so groß, daß die Worte von selbst deinen Lippen entströmten<br />

– du hast sie nicht mit dem Verstande abgewogen ...“ (S. 43).<br />

1 [S. 358 der deutschen Ausgabe, Weimar 1951, Erster Band.]<br />

8

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