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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

die Bestrebungen und der Geschmack der höheren Klassen zum Ausdruck kamen. Sein erster<br />

Vorwurf gegen Shakespeare: er sei kein Demokrat gewesen. Solche Tadel teilt er fast auf<br />

jeder Seite seines Buches über die Kunst nach allen Seiten hin aus. [815]<br />

V<br />

Diese Auffassung von der Kunst bringt den Grafen L. N. Tolstoi gewissermaßen mit unseren<br />

Aufklärern der sechziger Jahre in Berührung. Tatsächlich stellt das eben genannte Buch<br />

durchweg die gleichen Forderungen an die Kunst, wie seinerzeit N. G. Tschernyschewskis<br />

berühmte Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“. Man darf<br />

sich jedoch durch diese Annäherung der Ansichten nicht täuschen lassen.<br />

Sicherlich hätte Tolstoi dem aus irgendeinem Grunde bei ihm nirgends erwähnten Tschernyschewski<br />

voll und ganz eingeräumt, daß die Kunst den Menschen den Sinn ihres Lebens klarzumachen<br />

hat. Aber seine Auffassung vom Sinn des Lebens war der, die die Aufklärer angenommen<br />

hatten, direkt entgegengesetzt. Diese waren Materialisten und hielten die christliche<br />

Verachtung des Leibes für einen großen und schädlichen Irrtum. Tolstoi war Idealist, der<br />

diese Verachtung vor allen Anfang seiner Morallehre stellte. Er stand den Aufklärern der<br />

sechziger Jahre ebenso fern wie den heutigen Marxisten (selbstverständlich habe ich nur die<br />

im Auge, welche den Sinn ihrer eigenen Lehre verstehen).<br />

Später hat Tolstoi, empört über seine frühere schriftstellerische Tätigkeit, gesagt:<br />

„Obgleich ich die schriftstellerische Tätigkeit während dieser fünfzehn Jahre für etwas Unnützes<br />

ansah, hörte ich doch nicht auf, schriftstellerisch tätig zu sein. Ich hatte eben die Verlockungen<br />

der schriftstellerischen Tätigkeit, die Verlockungen außerordentlich großer<br />

Geldentschädigung und Beifalls für meine geringfügige Leistung gekostet und ergab mich ihr<br />

als einem Mittel zur Verbesserung meiner äußeren Lage und zur Betäubung aller Fragen nach<br />

dem Sinn meines Lebens und des Lebens im allgemeinen, die in meiner Seele auftauchten.“ 1<br />

Das ist furchtbar ungerecht. Wer könnte wohl glauben, daß wir so wunderbare Kunstwerke<br />

wie „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ einzig und allein Tolstois Gewinnsucht und<br />

Eitelkeit verdanken? 2<br />

In diesen Zeilen offenbart sich – was ich eben schon erwähnte – die völlige Unfähigkeit<br />

Tolstois, seine frühere Schriftstellerei vom historischen Standpunkt aus zu betrachten. Tolstoi<br />

wettert gegen sich selbst wie der religiöse Prediger gegen den „Sünder“. Aber es steckt in den<br />

Zeilen auch ein Fünkchen Wahrheit, die obendrein überaus interessant ist. Wir erfahren, daß<br />

das literarische Schaffen in der Seele Tolstois „alle Fragen [816] nach dem Sinn seines Lebens“<br />

betäubte. Es fragt sich, wie konnten diese Fragen durch diese Tätigkeit betäubt werden?<br />

Die Antwort ist klar. Damit die Arbeit Tolstois an seinen Kunstwerken die in ihm auftauchenden<br />

Fragen nach dem Sinn des Lebens betäuben konnte, mußte eine Bedingung notwendigerweise<br />

vorhanden sein: der Widerspruch zwischen dem, was er in seinen unvergleichlichen<br />

Kunstwerken darstellte, und der Stimmung, welche die sich in ihm regenden<br />

Fragen ans Licht brachte. Wäre es anders gewesen: hätte dieser Widerspruch nicht bestanden,<br />

so hätte Tolstois künstlerisches Schaffen diese Fragen nicht nur nicht betäubt, sondern, im<br />

Gegenteil, geklärt. Ein Widerspruch war zweifelsohne da. Aber woher kam er?<br />

Da Tolstoi die Rolle des genialen Milieuschilderers der höheren Gesellschaft zugefallen war,<br />

ist natürlicherweise anzunehmen, daß sich dieser Widerspruch aus dem mehr oder weniger<br />

undeutlichen Bewußtwerden der unberechtigten Vorrechte dieses Standes bildete. Diese An-<br />

1 „Beichte“, S. 12.<br />

2 Und wer wüßte jetzt nicht, daß es durchaus keine geringe Leistung war, diese Romane zu schreiben.<br />

7

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