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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

ßerordentlich und ungemein gescheit“ war: was Belinski hier als seine Beschränktheit bezeichnet,<br />

war in Wirklichkeit nur die Beschränktheit gewisser Standesauffassungen, die sich unser<br />

genialer Dichter kritiklos zu eigen gemacht hatte, d. h., es war nicht ein Mangel der Einzelperson,<br />

sondern eines ganzen Standes. Außerdem hätte sich Belinski richtiger ausgedrückt, wenn<br />

er statt „als Menschen“ gesagt hätte: „als Denker“. Mit dieser Berichtigung wäre seine Bemerkung<br />

mit vollem Recht beispielsweise auf Gogol anwendbar. Nur Herrn Wolynski (siehe sein<br />

Buch „Die russischen Kritiker“) war es möglich, nicht zu bemerken, daß sich Gogol in dem<br />

Buch „Auswahl aus dem Briefwechsel mit Freunden“ als äußerst beschränkter Denker gezeigt<br />

hat. Und das gleiche ist leider auch über den Verfasser von „Krieg und Frieden“ zu sagen: sein<br />

gewaltiger Verstand hatte sich in einem Maße „in das Talent, in die schöpferische Phantasie<br />

geflüchtet“, daß Graf Tolstoi in der Rolle des Denkers überall eine fast kindische Hilflosigkeit<br />

verrät. In der Art und Weise seines Denkens war er typischer Metaphysiker. „Ja, ja, nein, nein;<br />

was darüber ist, das ist vom Übel“ – nach dieser Formel vollziehen sich alle seine Denkoperationen.<br />

Darum konnte er auch die relative (historische) Rechtmäßigkeit solcher gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse nicht zugeben, die vom Standpunkt der heutigen moralischen Auffassungen<br />

zu verurteilen sind. Marx sagt im Vorwort zur ersten Auflage des I. Bandes [814] seines „Kapitals“,<br />

daß er weniger als irgendein anderer dazu neige, den einzelnen verantwortlich zu machen<br />

für Verhältnisse, deren Geschöpf er bleibt, so sehr er sich auch über sie erheben mag. 1*<br />

Das ist eine überaus humane Ansicht – die humanste, die überhaupt möglich ist. Aber zu dieser<br />

humanen Ansicht kann sich nur der Materialist erheben, der begreift, daß der Mensch ein<br />

Geschöpf der ihn umgebenden Verhältnisse ist. Tolstoi hat das niemals begriffen. Die materialistische<br />

Ansicht, derzufolge der Mensch ein Geschöpf des ihn umgebenden Milieus ist –<br />

eine Ansicht, die in unserer Literatur N. Tschernyschewski so oft und so liebevoll immer von<br />

neuem dargelegt und verteidigt hat –‚ <strong>erschien</strong> ihm als etwas ganz Törichtes. Tolstoi schreibt<br />

an einen seiner Korrespondenten:<br />

„Sie sagen – und viele sagen es –‚ daß man sich nicht auf seine eigenen Bemühungen, auf<br />

sich selbst verlassen könne. Verzeihen Sie mir, aber das sind nur Worte, die weder für mich<br />

noch für Sie irgendwelche Bedeutung haben. Daß der Mensch sich nicht auf sich selbst verlassen<br />

darf, kann nur ein Materialist sagen, der sich den Menschen als eine Verbindung mechanischer<br />

Kräfte vorstellt, die den Gesetzen unterliegen, welche die Materie regieren; aber<br />

für mich und für Sie wie für jeden religiösen Menschen gibt es eine lebendige Kraft, einen<br />

göttlichen Funken, der in den Körper gelegt ist und darin lebt.“ 2<br />

Das ist so naiv, daß es sogar die Billigung Mereshkowskis finden würde. Selbstverständlich<br />

wird ein „religiöser“ Schriftsteller, der der scheinbar höheren Überzeugung huldigt, daß der<br />

Mensch von den Gesetzen, welche die Materie regieren, unabhängig sei, seine eigene Tätigkeit<br />

niemals als das gesetzmäßige Produkt des gegebenen Laufes der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

betrachten können. Bemerkt er in einer gewissen Periode dieser Tätigkeit irgendeine<br />

Abweichung von seinem gegenwärtigen Ideal, so vermag er in einer solchen Abweichung<br />

nichts anderes zu erblicken als eine Sünde, ein Erlöschen des „göttlichen Funkens, der in den<br />

Körper gelegt ist“, usw. Und so ging es auch dem Grafen L. N. Tolstoi. Jene Periode seines<br />

literarischen Schaffens, in der er Meister in der Schilderung des Milieus der höheren Gesellschaftsklasse<br />

war, <strong>erschien</strong> ihm jetzt als eine Periode unverzeihlicher Schwäche. Und mit den<br />

gleichen Augen betrachtete er das Schaffen einfach aller großen Künstler, in deren Werken<br />

1* Im 1. Band des „Kapitals“ (Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 8) findet man folgende Stelle: „Weniger als jeder andere<br />

kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen<br />

Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so<br />

sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“<br />

2 „Reife Ähren“, S. 22.<br />

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