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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

en, deren Beispiel die jungen Frauen und Mädchen folgen, die in kostbaren Kleidern auf den<br />

Ball gehen, sagen gewöhnlich: ‚Ich nötige niemand: die Sachen kaufe ich, die Menschen, die<br />

Zimmermädchen, Kutscher nehme ich in meinen Dienst. Kaufen und in Dienst nehmen – es<br />

ist nichts Schlechtes dabei. Ich nötige niemand, ich nehme in Dienst; was soll denn da<br />

Schlechtes dabei sein!‘“ 1<br />

Das ist wirklich häufig der Gedankengang von Menschen der höheren Gesellschaftsklasse,<br />

wo Geldwirtschaft herrscht. Aber dieser Gedankengang war zum Beispiel beim Grafen Rostow<br />

nicht möglich. Er hatte seine Leibeigenen „nicht in Dienst genommen“, und doch betrachtete<br />

dieser zweifelsohne gute Mensch sowohl den ihn umgebenden Luxus wie auch die<br />

Tatsache, daß fast jedes Vergnügen seiner Familie die Ausbeutung fremder Arbeit voraussetzte,<br />

mit dem ruhigsten Gewissen der Welt. Ich will noch mehr sagen.<br />

Tolstoi weist selbst auf Situationen hin, in denen die besagte Ausbeutung sogar die, welche<br />

ihr unterworfen sind, nicht im geringsten empört. Da fuhren die Rostows auf der Fahrt zum<br />

Ball bei der Hofdame Peronskaja vor, um sie abzuholen, und „genauso wie bei Rostows hatte<br />

die alte Kammerfrau voll Entzücken die Toilette ihrer Herrin bewundert, als diese im gelben<br />

Kleide, mit dem Rangzeichen der Hofdame, in den Salon trat“. Da muß ich an die Erzählung<br />

eines Reisenden denken, nach der die Sklaven in manchen Gegenden Afrikas das Davonlaufen<br />

als eine Ehrlosigkeit betrachten, die den Sklavenhalter seines gesetzlichen Eigentums<br />

beraubt. Es ergibt sich also, daß es sich nicht nur um den Zustand der Hypnose handelt, in<br />

den man durch den Ball versetzt wird, und nicht nur um die Bedingungen der Geldwirtschaft.<br />

Die Macht der „Hypnose“ erweist sich als äußerst weitreichend: mitunter zieht sie nicht nur<br />

die Ausbeuter, sondern auch Ausgebeutete in ihren Bann. Und diese äußerst weitreichende<br />

Macht der „Hypnose“, und nur sie allein, erklärt die anfangs unbegreifliche psychologische<br />

Erscheinung, daß ein so zweifellos guter Mensch, der L. N. Tolstoi immer gewesen ist, das<br />

Leben des höheren Standes in künstlerischer Form darstellen und das ausgebeutete Volk lange<br />

Zeit mit jener Teilnahmslosigkeit betrachten konnte, mit der man eine Mauer anschaut:<br />

auch an ihm selbst zeigte sich der Einfluß der „Hypnose“. Ein Mensch, der unter bestimmten<br />

gesellschaftlichen Bedingungen aufgewachsen ist, neigt dazu, diese Bedingungen so lange für<br />

natürlich und gerecht zu halten, bis sich diese Auffassung unter dem Einfluß irgendwelcher<br />

neuer Tatsachen, die sich allmählich aus eben diesen Bedingungen ergeben, verändert. [813]<br />

IV<br />

Die Umwälzung, die sich zu Beginn der achtziger Jahre in Tolstoi vollzog, bestand vornehmlich<br />

darin, daß unser großer Schriftsteller aus jenem hypnotischen Zustand heraustrat, in den<br />

er unter dem Einfluß des ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus geraten war und in dem<br />

er in unserer Literatur als Meisterschilderer des Milieus der höheren Stände auftrat. Als er<br />

sich aus der Hypnose befreit hatte, verurteilte er sein künstlerisches Schaffen auf das schärfste.<br />

Das war natürlich sehr ungerecht; aber psychologisch war es, als Folge der von ihm eben<br />

durchgemachten Wandlung, völlig verständlich. So war die Schärfe dieses negativen Urteils<br />

durch einige äußerst bemerkenswerte Besonderheiten seiner Ansichten und Denkgewohnheiten<br />

ganz gigantisch gesteigert worden.<br />

Belinski sagt in einem der Briefe an seine Moskauer Freunde, daß sich „bei künstlerisch veranlagten<br />

Menschen der Verstand in das Talent, in die schöpferische Phantasie flüchtet“ und<br />

daß „sie daher in ihren Schöpfungen, als Dichter, außerordentlich und ungemein gescheit,<br />

aber als Menschen beschränkt und fast dumm sind (Puschkin, Gogol)“.<br />

Das paßt offenbar nicht auf Puschkin, der nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch „au-<br />

1 „Wie ist mein Leben?“, S. 161.<br />

5

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