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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 da Tolstoi selbst die gleiche Sünde beging, deren er später „jede der Frauen“ bezichtigte, die in einem Kleid für 150 Rubel auf den Ball ging: er verhielt sich zu der Tatsache der Ausbeutung der einen Gesellschaftsklasse durch die andere genau wie sie. Er mußte um das Vorhandensein dieser Tatsache wissen; aber er betrachtete sie als etwas Unvermeidliches, Selbstverständliches, und deshalb regte er sich nicht nur nicht darüber auf, nein, er hielt es nicht einmal für nötig, ihr Beachtung zu schenken. Ihn interessierten damals nicht die Leiden jener Menschen, die der Ausbeutung seitens der Rostows, Ilagins und anderer Mitglieder des höheren Standes unterworfen waren, ihn interessierte, wie dieser höhere Stand lebte und wie er von der Möglichkeit des Lebensgenusses Gebrauch machte, die ihm die Ausbeutung der leibeigenen „Seelen“ brachte. Er war ein künstlerischer Schilderer des Lebens des höheren Standes. Die werktätige Bevölkerung des Landes betrachtete er, wie man – nach seinem eigenen, aus einem anderen Anlaß gebrauchten Ausdruck – eine Mauer ansieht: völlig teilnahmslos. Dann kam eine Zeit, wo er dieser Ansicht entsagte und das Volk als den Träger der höchsten Wahrheit betrachtete. Und darin bestand, wie bereits gesagt, eine der Seiten der Umwälzung, die sich zu Beginn der achtziger Jahre in ihm vollzog. Diese Seite ist in höchstem Grade interessant. Denn gerade daraus erklärt sich der Umstand, daß Tolstoi sogar von vielen Persönlichkeiten unserer Gesellschaft Lehrmeister des Lebens [811] genannt wird, die niemals so gelebt haben, leben werden, leben wollen und können, wie Tolstoi es lehrte. Und genauso hat man darin die Erklärung zu suchen, warum unser Verfasser sein früheres künstlerisches Schaffen nach der „Umwälzung“ so streng verurteilte; er sah es als künstlerische Wiedergabe des Lebens der Volksausbeuter an und verurteilte seine Rolle als Idealisierer dieser Lebensweise. All das verdient aufmerksame Betrachtung. III Graf L. N. Tolstoi ist natürlich niemals ein schlechter Mensch gewesen. Wie konnte er nun das Volk mit demselben teilnahmslosen Blick betrachten, wie man eine Wand anschaut? Natascha Rostowa ist ebenfalls nie schlecht gewesen. Im Gegenteil, ihr Charakter zeichnete sich durch Güte und Anstand aus. Trotzdem hatte sie nicht den geringsten Sinn für die Frage, warum die eine Gesellschaftsklasse auf Kosten der anderen lebt. Tolstoi, der das müßige Luxusleben der höheren Klasse in der letzten Periode seines literarischen Schaffens anprangerte, hat indes sehr wohl begriffen, daß der Gleichmut der Menschen dieser Klasse gegenüber dem Los des werktätigen Volkes noch nicht von einem bösen Herzen zeugt. Seinen Worten, daß die Frauen, die in Kleidern für 150 Rubel auf den Ball gingen, jedenfalls doch haben wissen und sehen müssen, welch ungeheure Bedeutung für den Bauern das von ihnen für Putz hinausgeworfene Geld hatte und wie ihr Vergnügen mit der Überanstrengung der Dienerschaft verbunden war, fügt er sogleich hinzu: „Aber ich weiß, daß es gerade so ist, als sähen sie das nicht.“ Ja, er meint gar, man „dürfe sie nicht verurteilen“, denn der „Zustand der Hypnose, in den sie durch den Ball versetzt werden“, habe sie blind gemacht. Die auf den Bällen tanzenden jungen Frauen und Mädchen tun nur, was die älteren für gut befinden. Es bleibt also nur die Frage: „Wie erklären diese älteren ihre Hartherzigkeit gegenüber den Menschen?“ Und diese Frage beantwortet die Broschüre „Wie ist mein Leben?“ mit dem Hinweis auf den Charakter der Geldwirtschaft. „Ich erinnere mich“, so sagt er, „ich habe alte, nicht sentimentale Spieler gesehen, welche mir sagten, daß das Angenehme bei diesem Spiel gerade das sei, daß man nicht sieht, wem man das Geld abgewinnt, wie dies bei anderen Spielen der Fall ist; der Lakai bringt nicht einmal Geld, sondern Marken; jeder hat einen kleinen Einsatz verspielt, aber man merkt ihm keinen Ärger an. Genauso ist es mit dem Roulett, das überall nicht ohne Grund verboten ist.“ „Genauso ist es mit dem Geld; es verhindert nicht nur, daß man sieht, wen man ausbeutet, sondern es verbirgt vor uns überhaupt die Tatsache [812] der Ausbeutung. Die älteren Frau- 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 en, deren Beispiel die jungen Frauen und Mädchen folgen, die in kostbaren Kleidern auf den Ball gehen, sagen gewöhnlich: ‚Ich nötige niemand: die Sachen kaufe ich, die Menschen, die Zimmermädchen, Kutscher nehme ich in meinen Dienst. Kaufen und in Dienst nehmen – es ist nichts Schlechtes dabei. Ich nötige niemand, ich nehme in Dienst; was soll denn da Schlechtes dabei sein!‘“ 1 Das ist wirklich häufig der Gedankengang von Menschen der höheren Gesellschaftsklasse, wo Geldwirtschaft herrscht. Aber dieser Gedankengang war zum Beispiel beim Grafen Rostow nicht möglich. Er hatte seine Leibeigenen „nicht in Dienst genommen“, und doch betrachtete dieser zweifelsohne gute Mensch sowohl den ihn umgebenden Luxus wie auch die Tatsache, daß fast jedes Vergnügen seiner Familie die Ausbeutung fremder Arbeit voraussetzte, mit dem ruhigsten Gewissen der Welt. Ich will noch mehr sagen. Tolstoi weist selbst auf Situationen hin, in denen die besagte Ausbeutung sogar die, welche ihr unterworfen sind, nicht im geringsten empört. Da fuhren die Rostows auf der Fahrt zum Ball bei der Hofdame Peronskaja vor, um sie abzuholen, und „genauso wie bei Rostows hatte die alte Kammerfrau voll Entzücken die Toilette ihrer Herrin bewundert, als diese im gelben Kleide, mit dem Rangzeichen der Hofdame, in den Salon trat“. Da muß ich an die Erzählung eines Reisenden denken, nach der die Sklaven in manchen Gegenden Afrikas das Davonlaufen als eine Ehrlosigkeit betrachten, die den Sklavenhalter seines gesetzlichen Eigentums beraubt. Es ergibt sich also, daß es sich nicht nur um den Zustand der Hypnose handelt, in den man durch den Ball versetzt wird, und nicht nur um die Bedingungen der Geldwirtschaft. Die Macht der „Hypnose“ erweist sich als äußerst weitreichend: mitunter zieht sie nicht nur die Ausbeuter, sondern auch Ausgebeutete in ihren Bann. Und diese äußerst weitreichende Macht der „Hypnose“, und nur sie allein, erklärt die anfangs unbegreifliche psychologische Erscheinung, daß ein so zweifellos guter Mensch, der L. N. Tolstoi immer gewesen ist, das Leben des höheren Standes in künstlerischer Form darstellen und das ausgebeutete Volk lange Zeit mit jener Teilnahmslosigkeit betrachten konnte, mit der man eine Mauer anschaut: auch an ihm selbst zeigte sich der Einfluß der „Hypnose“. Ein Mensch, der unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen aufgewachsen ist, neigt dazu, diese Bedingungen so lange für natürlich und gerecht zu halten, bis sich diese Auffassung unter dem Einfluß irgendwelcher neuer Tatsachen, die sich allmählich aus eben diesen Bedingungen ergeben, verändert. [813] IV Die Umwälzung, die sich zu Beginn der achtziger Jahre in Tolstoi vollzog, bestand vornehmlich darin, daß unser großer Schriftsteller aus jenem hypnotischen Zustand heraustrat, in den er unter dem Einfluß des ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus geraten war und in dem er in unserer Literatur als Meisterschilderer des Milieus der höheren Stände auftrat. Als er sich aus der Hypnose befreit hatte, verurteilte er sein künstlerisches Schaffen auf das schärfste. Das war natürlich sehr ungerecht; aber psychologisch war es, als Folge der von ihm eben durchgemachten Wandlung, völlig verständlich. So war die Schärfe dieses negativen Urteils durch einige äußerst bemerkenswerte Besonderheiten seiner Ansichten und Denkgewohnheiten ganz gigantisch gesteigert worden. Belinski sagt in einem der Briefe an seine Moskauer Freunde, daß sich „bei künstlerisch veranlagten Menschen der Verstand in das Talent, in die schöpferische Phantasie flüchtet“ und daß „sie daher in ihren Schöpfungen, als Dichter, außerordentlich und ungemein gescheit, aber als Menschen beschränkt und fast dumm sind (Puschkin, Gogol)“. Das paßt offenbar nicht auf Puschkin, der nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch „au- 1 „Wie ist mein Leben?“, S. 161. 5

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da Tolstoi selbst die gleiche Sünde beging, deren er später „jede der Frauen“ bezichtigte, die<br />

in einem Kleid für 150 Rubel auf den Ball ging: er verhielt sich zu der Tatsache der Ausbeutung<br />

der einen Gesellschaftsklasse durch die andere genau wie sie. Er mußte um das Vorhandensein<br />

dieser Tatsache wissen; aber er betrachtete sie als etwas Unvermeidliches, Selbstverständliches,<br />

und deshalb regte er sich nicht nur nicht darüber auf, nein, er hielt es nicht einmal<br />

für nötig, ihr Beachtung zu schenken. Ihn interessierten damals nicht die Leiden jener<br />

Menschen, die der Ausbeutung seitens der Rostows, Ilagins und anderer Mitglieder des höheren<br />

Standes unterworfen waren, ihn interessierte, wie dieser höhere Stand lebte und wie er<br />

von der Möglichkeit des Lebensgenusses Gebrauch machte, die ihm die Ausbeutung der leibeigenen<br />

„Seelen“ brachte. Er war ein künstlerischer Schilderer des Lebens des höheren Standes.<br />

Die werktätige Bevölkerung des Landes betrachtete er, wie man – nach seinem eigenen,<br />

aus einem anderen Anlaß gebrauchten Ausdruck – eine Mauer ansieht: völlig teilnahmslos.<br />

Dann kam eine Zeit, wo er dieser Ansicht entsagte und das Volk als den Träger der höchsten<br />

Wahrheit betrachtete. Und darin bestand, wie bereits gesagt, eine der Seiten der Umwälzung,<br />

die sich zu Beginn der achtziger Jahre in ihm vollzog. Diese Seite ist in höchstem Grade interessant.<br />

Denn gerade daraus erklärt sich der Umstand, daß Tolstoi sogar von vielen Persönlichkeiten<br />

unserer Gesellschaft Lehrmeister des Lebens [811] genannt wird, die niemals so<br />

gelebt haben, leben werden, leben wollen und können, wie Tolstoi es lehrte. Und genauso hat<br />

man darin die Erklärung zu suchen, warum unser Verfasser sein früheres künstlerisches<br />

Schaffen nach der „Umwälzung“ so streng verurteilte; er sah es als künstlerische Wiedergabe<br />

des Lebens der Volksausbeuter an und verurteilte seine Rolle als Idealisierer dieser Lebensweise.<br />

All das verdient aufmerksame Betrachtung.<br />

III<br />

Graf L. N. Tolstoi ist natürlich niemals ein schlechter Mensch gewesen. Wie konnte er nun<br />

das Volk mit demselben teilnahmslosen Blick betrachten, wie man eine Wand anschaut?<br />

Natascha Rostowa ist ebenfalls nie schlecht gewesen. Im Gegenteil, ihr Charakter zeichnete sich<br />

durch Güte und Anstand aus. Trotzdem hatte sie nicht den geringsten Sinn für die Frage, warum<br />

die eine Gesellschaftsklasse auf Kosten der anderen lebt. Tolstoi, der das müßige Luxusleben<br />

der höheren Klasse in der letzten Periode seines literarischen Schaffens anprangerte, hat indes<br />

sehr wohl begriffen, daß der Gleichmut der Menschen dieser Klasse gegenüber dem Los des<br />

werktätigen Volkes noch nicht von einem bösen Herzen zeugt. Seinen Worten, daß die Frauen,<br />

die in Kleidern für 150 Rubel auf den Ball gingen, jedenfalls doch haben wissen und sehen müssen,<br />

welch ungeheure Bedeutung für den Bauern das von ihnen für Putz hinausgeworfene Geld<br />

hatte und wie ihr Vergnügen mit der Überanstrengung der Dienerschaft verbunden war, fügt er<br />

sogleich hinzu: „Aber ich weiß, daß es gerade so ist, als sähen sie das nicht.“ Ja, er meint gar,<br />

man „dürfe sie nicht verurteilen“, denn der „Zustand der Hypnose, in den sie durch den Ball<br />

versetzt werden“, habe sie blind gemacht. Die auf den Bällen tanzenden jungen Frauen und<br />

Mädchen tun nur, was die älteren für gut befinden. Es bleibt also nur die Frage: „Wie erklären<br />

diese älteren ihre Hartherzigkeit gegenüber den Menschen?“ Und diese Frage beantwortet die<br />

Broschüre „Wie ist mein Leben?“ mit dem Hinweis auf den Charakter der Geldwirtschaft.<br />

„Ich erinnere mich“, so sagt er, „ich habe alte, nicht sentimentale Spieler gesehen, welche mir<br />

sagten, daß das Angenehme bei diesem Spiel gerade das sei, daß man nicht sieht, wem man<br />

das Geld abgewinnt, wie dies bei anderen Spielen der Fall ist; der Lakai bringt nicht einmal<br />

Geld, sondern Marken; jeder hat einen kleinen Einsatz verspielt, aber man merkt ihm keinen<br />

Ärger an. Genauso ist es mit dem Roulett, das überall nicht ohne Grund verboten ist.“<br />

„Genauso ist es mit dem Geld; es verhindert nicht nur, daß man sieht, wen man ausbeutet,<br />

sondern es verbirgt vor uns überhaupt die Tatsache [812] der Ausbeutung. Die älteren Frau-<br />

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