18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

stimmter und viel deutlicher aus. Er sagt: „In mir vollzog sich eine Umwälzung, die sich<br />

schon lange in mir vorbereitet hatte und deren Keime stets in mir gelegen hatten.“ 1 Damit ist<br />

wohl am richtigsten ausgedrückt, was mit dem Verfasser von „Krieg und Frieden“ geschehen<br />

war. Man muß sich nur in das, was damit gesagt ist, recht hineindenken.<br />

Worin bestand eigentlich die „Umwälzung“, die sich, nach dem eigenen Geständnis des Grafen<br />

Tolstoi, schon lange in ihm vorbereitet hatte? Seine „Beichte“ gibt darauf folgende Antwort:<br />

„In mir war“, sagt er darin, „folgendes vor sich gegangen: das Leben unseres Kreises,<br />

der Reichen und Gebildeten, ward mir nicht nur widerwärtig, sondern verlor für mich jeglichen<br />

Sinn. Alle unsere Handlungen, unsere Anschauungen, die Wissenschaft und die Kunst –<br />

alles bekam für mich eine neue Bedeutung: mir war klargeworden, daß all dies nichts als<br />

Spielerei sei, daß man einen Sinn darin nicht suchen könne. Das Leben des gesamten arbeitenden<br />

Volkes aber, der ganzen Menschheit, die das Leben schafft, stand klar vor [808] mir in<br />

seiner wahren Bedeutung. Ich hatte erkannt, das ist das Leben selbst. Der Sinn, der diesem<br />

Lehen beigelegt wird, ist die Wahrheit, und so nahm auch ich ihn an“ (S. 43).<br />

Also bestand die „Umwälzung“ erstens darin, daß das Leben der höheren Klasse Tolstoi nicht<br />

nur widerwärtig wurde, sondern in seinen Augen jeglichen Sinn verlor; zweitens darin, daß das<br />

Leben des werktätigen Volkes für ihn große Anziehungskraft bekam und daß der Sinn, der vom<br />

werktätigen Volke diesem Leben beigelegt wird, von ihm als die „Wahrheit“ erkannt wurde.<br />

Wir wollen diese beiden Seiten der „Umwälzung“ untersuchen und zu bestimmen versuchen, in<br />

welchem Maße jede von ihnen durch die früheren Ansichten unseres Verfassers vorbereitet war.<br />

II<br />

Beginnen wir mit der höheren Klasse. In der Broschüre „Wie ist mein Leben?“ berichtet<br />

Tolstoi unter anderem von den Betrachtungen, die der große Ball ihm nahelegte, der im März<br />

1884 in Moskau gerade an dem Tage stattfand, wo er einige erschütternde Szenen aus dem<br />

Leben der Armen Moskaus sehen mußte. Er schreibt:<br />

„Denn jede der Frauen, die auf diesem Ball in einem Kleid <strong>erschien</strong>, das 150 Rubel gekostet<br />

hatte, war nicht auf dem Ball oder bei M me . Minangoit 2 ins Leben getreten, sondern sie lebte<br />

auf dem Dorfe und sah die Mushiks, sie kennt ihre Kinderfrau und Kammerfrau, deren Väter<br />

und Brüder arm sind, für die es das Ziel eines langen arbeitsamen Lebens ist, 150 Rubel zusammenzusparen,<br />

um sich eine Hütte bauen zu können; sie weiß dies; wie konnte sie sich der<br />

Lustbarkeit hingeben, wo sie doch wußte, daß sie auf diesem Balle auf ihrem bloßen Körper<br />

jene Hütte trug, die der Traum des Bruders ihrer guten Kammerfrau ist?“ (S. 160).<br />

Wir wissen, wie sich diese geputzten Damen belustigen konnten. Tolstoi selbst hat uns ihr<br />

Seelenleben mit unnachahmlicher Kunst geschildert. Wir erinnern uns, wie sich Natascha<br />

Rostowa auf dem Ball amüsiert hat, der am Vorabend des neuen Jahres 1810 in Petersburg<br />

stattfand; wir haben auch nicht die Vorbereitungen dazu vergessen.<br />

„Für Natascha war das der erste große Ball ihres Lebens. Sie war an diesem Tage um acht<br />

Uhr morgens aufgestanden und war den ganzen Tag über in fieberhafter Aufregung und Tätigkeit<br />

gewesen. Alle ihre Kräfte waren vom frühen Morgen an darauf gerichtet, daß sie alle<br />

drei – sie selbst, die Mama, Sonja – so gut wie möglich gekleidet wären. Sonja und die Gräfin<br />

hatten sich hierin ganz Natascha überantwortet. Die Gräfin sollte ein dunkelrotes Samtkleid<br />

tragen, die beiden jungen Mädchen [809] weiße Florkleider über rosaseidenen Unterkleidern,<br />

mit Rosen am Mieder. Dazu Frisur à la grecque [griechische Frisur].“<br />

1 „Beichte“, Ausg. der „Donskaja Retsch“, S. 43.<br />

2 M me . Minangoit ist eine Schneiderin. Die Red.<br />

2

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!