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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[806]<br />

Nochmals über Tolstoi*<br />

I<br />

L. I. Axelrod sagt in ihrem – den russischen Lesern bedauerlicherweise viel zuwenig bekannten<br />

– Buche „Tolstois Weltanschauung und ihre Entwickelung“ (Stuttgart 1902, S. 13-15), daß viele<br />

Bestandteile jener Lehre schon in den allerersten Werken L. N. Tolstois ausgesprochen sind, die<br />

er dann in der letzten Periode seiner literarischen Tätigkeit unter soviel Aufsehen verkündet hat.<br />

Und das ist völlig richtig. Sollte dennoch jemand daran zweifeln, so will ich ihn auf eines der<br />

Beispiele hinweisen, die L. I. Axelrod selbst anführt. Die Person, von der in der berühmten<br />

Skizzenreihe „Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre“ die Rede ist, sagt von sich: „Mir war wohl<br />

der Gedanke gekommen, daß das Glück nicht von äußeren Ursachen abhängig sei, sondern von<br />

unserem Verhalten ihnen gegenüber, und daß der Mensch, welcher gewohnt ist, Leiden zu ertragen,<br />

nicht unglücklich sein könne – und um mich an körperliche Anstrengung zu gewöhnen,<br />

hielt ich trotz entsetzlicher Schmerzen fünf Minuten lang mit ausgestreckten Armen die Lexika<br />

von Tatischtschew, oder ich ging in die Vorratskammer und peitschte mit einem Strick meinen<br />

nackten Rücken so stark, daß mir vor Schmerzen Tränen in die Augen traten“ (S. 183).<br />

Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß wir hier demselben Gedanken begegnen, von<br />

dem sich Graf Tolstoi während der letzten Periode seiner literarischen Tätigkeit leiten ließ, jener<br />

Periode, als er zum „Lehrmeister des Lebens“ wurde. Freilich hat er im Laufe dieser Periode<br />

niemand empfohlen, auf gestreckten Armen die Lexika von Tatischtschew zu halten oder<br />

sich mit einem Strick den nackten Rücken zu peitschen. Aber alles, was er predigte, stützte sich<br />

auf die Gegenüberstellung von „Geist“ und „Körper“, „Ewigem“ und „Vergänglichem“. Und<br />

diese Gegenüberstellung führt unvermeidlich zu der Schlußfolgerung, daß das Glück des Menschen<br />

„nicht von äußeren Ursachen abhängt“, die natürlich immer nur „vergänglichen Charakter“<br />

haben, und Tolstoi fürchtet diese Schlußfolgerung nicht nur nicht, sondern er wiederholt<br />

sie mit unerschütterlicher Überzeugung besonders da, wo er die Gegensätzlichkeit seiner Lehre<br />

[807] zu der Lehre der Sozialisten hervorhebt. Die Sozialisten behaupten, das Glück des gesellschaftlichen<br />

Menschen hänge von einer „äußeren Ursache“ ab, die man als Gesellschaftsordnung<br />

bezeichnet. Deshalb ist ihr „Endziel“ eine bestimmte Umgestaltung dieser Ordnung. Graf<br />

Tolstoi war ganz dagegen, die Menschen dieser Richtung Einfluß auf die Arbeiterklasse gewinnen<br />

zu lassen. Und so schreibt er denn die Broschüre „An das arbeitende Volk“‘ in der es<br />

heißt: „Es gibt nichts Gefährlicheres für die Menschen als den Gedanken, daß die Ursachen<br />

ihrer beklagenswerten Lage nicht in ihnen selbst ruhen, sondern in äußeren Umständen. Wenn<br />

der Mensch, oder eine Gemeinschaft von Menschen, von der Vorstellung ausgeht, daß das<br />

Übel, welches er empfindet, durch äußere Umstände hervorgerufen sei, und wenn er seine<br />

Aufmerksamkeit und seine Kräfte auf die Umgestaltung dieser äußeren Umstände richtet, so<br />

wird das Übel nur größer werden. Wenn aber der Mensch, oder eine Gemeinschaft von Menschen,<br />

aufrichtig sich selbst beobachtet und in sich selber und in seinem eigenen Leben nach<br />

den Ursachen jenes Übels sucht, an dem er oder die Gemeinschaft leidet, so werden diese Ursachen<br />

sich sofort finden und von selbst schwinden“ (S. 39).<br />

Wenn wir diese Zeilen mit der Stelle aus „Knabenalter“ vergleichen, auf die L. I. Axelrod<br />

hinweist, so sehen wir, daß die von Tolstoi gepredigte Lehre in der Tat nur die systematische<br />

Darlegung eines der Gedanken ist, auf die Graf Tolstoi schon sehr früh verfallen war.<br />

Tolstoi spricht es manchmal selbst aus, daß sich zu Beginn der achtziger Jahre eine grundlegende<br />

Umwälzung in ihm vollzogen habe. Und an anderen Stellen drückt er sich noch be-<br />

* Anmerkungen zu: Nochmals über Tolstoi (S. 806-821) am Ende des Kapitels.<br />

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