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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

bewußtsein des Proletariats und die von ihm bedingte Bereitschaft, der reaktionären Gewalt<br />

die revolutionäre Macht entgegenzusetzen. Wer dieses Bewußtsein trübt, wer diese Bereitschaft<br />

erschüttert, der ist kein Feind des Militarismus, sondern sein Freund, auch wenn er sich<br />

mit dem starrköpfigen Formalismus eines Sektierers sein Leben lang weigert und sich auch<br />

durch Verfolgungen nicht einschüchtern läßt, einen Schießprügel in die Hand zu nehmen.<br />

Was die russische bürgerliche „Gesellschaft“ betrifft, so befindet sie sich gerade jetzt in einer<br />

Stimmung, die sie veranlaßt, sich vor der Predigt des Grafen Tolstoi zu „verneigen“. Sie hat<br />

den Glauben an die Möglichkeit, die Macht des revolutionären Volkes der Gewalt der Reaktionäre<br />

entgegenzusetzen, verloren; sie hat sich mehr oder weniger fest davon überzeugt, daß<br />

dieses Widersachertum nicht in ihrem Interesse liegt. Sie möchte ihren alten Streit mit dem<br />

Absolutismus auf friedlichem Wege schlichten. Hierauf ist die ganze Taktik der einflußreichsten<br />

ihrer „linken“ Vertreter, der Kadetten, gerichtet. Die moralisch-religiöse Predigt des Grafen<br />

Tolstoi ist jetzt, unter den heutigen Umständen, lediglich eine Übertragung der „realistischen“<br />

Politik des Herrn Miljukow in die Sprache der Mystik.<br />

Konsequenten Menschen braucht man nicht zuzustimmen, aber man kommt nicht umhin, ihre<br />

Logik gutzuheißen. Leute vom Schlage der [805] Kadetten sind auf ihre Art durchaus im<br />

Recht, wenn sie sich vor dem Grafen Tolstoi verneigen. Aber was soll man von den unzähligen<br />

„ehrlichen“, „gebildeten“ Herrschaften sagen, die sich „linker“ als die Kadetten dünken<br />

und zuweilen sogar terroristische Neigungen zeigen, wenn sie vom „Auszug“ des Grafen<br />

Tolstoi aus Jasnaja Poljana „soviel Wind machen“ und von der vermeintlichen Erhabenheit<br />

des empörenden Gedankens, wie er in dem Aufsatz „Das wirksame Mittel“ entwickelt wurde,<br />

gerührt sind?<br />

Derartige Eklektiker gaben immer schon eine klägliche Figur ab, und mit Recht hat sich<br />

Tschernyschewski über sie lustig gemacht, als er Viktor Hugo charakterisierte. Aber eine<br />

ganz besonders klägliche Figur geben sie im heutigen Rußland ab, wo die Verfallsperiode,<br />

die nach den stürmischen Ereignissen der Jahre 1905-1907 eingesetzt hatte, eben erst zu Ende<br />

geht. Ihre Rührung vor dem Grafen Tolstoi erinnert an die Religiosität von Lunatscharski,<br />

Basarow & Co. Ich habe einmal unter Benutzung eines Ausdrucks von I. Kirejewski gesagt,<br />

diese Religiosität sei nichts anderes als ein „Seelenwärmer der modernen Depression“. Ein<br />

solcher „Seelenwärmer“ ist auch die Begeisterung für Tolstoi – nicht etwa für den großen<br />

Künstler, was durchaus verständlich und berechtigt wäre, sondern für den „Lebenslehrer“. In<br />

diesem Gewand der Depression, das sich nur alten Weihern ziemt, stolzieren heute selbst<br />

energische Menschen umher, die sich an Demonstrationen beteiligen. Die Sozialdemokraten<br />

müssen dafür sorgen, daß sie dieses Gewand endlich ablegen.<br />

Heine hatte recht, als er sagte: eine neue Zeit braucht für eine neue Sache ein neues Kleid.<br />

PS. ‚Jetzt beginnt man Tolstoi mit Rousseau zu vergleichen, aber dieser Vergleich kann nur<br />

zu negativen Schlußfolgerungen führen. Rousseau war Dialektiker (einer der ganz wenigen<br />

Dialektiker des 18. Jahrhunderts); Tolstoi dagegen blieb bis an sein Lebensende Metaphysiker<br />

von reinstem Wasser (einer der typischsten Metaphysiker des 19. Jahrhunderts). Tolstoi<br />

Rousseau gleichsetzen kann nur, wer den berühmten „Discours sur [l’origine et les fondements<br />

de] l’inégalité parmi les hommes“ entweder nicht gelesen oder nicht begriffen hat. In<br />

der russischen Literatur ist der dialektische Charakter der Anschauungen Rousseaus bereits<br />

vor zwölf Jahren von W. I. Sassulitsch dargelegt worden. 1*<br />

1* Plechanow meint die Schrift „Jean-Jacques Rousseau“ von W. I. Sassulitsch, die im Jahre 1898 <strong>erschien</strong>en ist.<br />

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