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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

schen Heldentaten des hochwohlgeborenen russischen Adels. Hierin zeigte sich bei ihm der<br />

Einfluß der fortschrittlichen Ideen seiner Zeit. Aber anderseits war er auch nicht fähig, auf die<br />

Seite der Massen überzutreten, die vom Adelsstaat ausgebeutet wurden. Feuerbach würde<br />

gesagt haben, daß ihm als „Objekt“ nur noch er selbst geblieben sei, und deswegen mußte er<br />

nach persönlicher Unsterblichkeit lechzen. Graf Tolstoi versuchte eifrig zu beweisen, der Tod<br />

sei überhaupt nicht schrecklich. Aber er tat es ausschließlich deshalb, weil er höllische Angst<br />

vor dem Tod hatte. Die Leser des „Sozialdemokrat“ werden auch ohne meine Ausführungen<br />

verstehen, daß sich das klassen-[799]bewußte Proletariat die Praxis der „Einigkeit“ ganz anders<br />

vorstellt, als sie sich Tolstoi vorgestellt hat. Und wenn heute einige Ideologen der Arbeiterklasse<br />

Tolstoi als einen „Lehrmeister des Lebens“ hinstellen, dann irren sie sich ganz gewaltig:<br />

das Proletariat erklärt sich völlig außerstande, bei Graf Tolstoi „leben zu lernen“.<br />

V<br />

Übrigens Irrtümer. Graf Tolstoi, der oft behauptet hatte, er habe mit den Sozialisten nichts gemein,<br />

hat sich, soviel ich weiß, nie die Mühe gemacht, seine Stellung zum wissenschaftlichen<br />

Sozialismus von Marx genau und präzis darzulegen. Und das ist begreiflich: war ihm doch dieser<br />

Sozialismus kaum bekannt. In dem Buch „Reife Ähren“ findet man jedoch Zeilen, in denen,<br />

wahrscheinlich ohne daß es Graf Tolstoi wußte, die ganze Gegensätzlichkeit seiner Lehre zur<br />

Lehre Marx’ so augenfällig wie nur möglich zutage tritt. Tolstoi schreibt dort:<br />

„Der Hauptirrtum der Menschen ist der, daß es jedem einzelnen von ihnen scheint, als ob die<br />

Richtschnur seines Lebens das Streben nach Genuß und der Abscheu vor Leiden sei. Und der<br />

Mensch allein, ohne Anleitung, läßt sich von dieser Richtschnur leiten: er sucht Genuß und<br />

meidet Leid; darin sieht er das Ziel und den Sinn des Lebens. Aber der Mensch kann doch<br />

niemals nur leben und genießen, ohne auch zu leiden. Folglich kann das nicht das Ziel des<br />

Lebens sein. Und wenn es so wäre – welche Widersinnigkeit! Das Ziel ist der Genuß, doch<br />

dieser ist nicht da und kann es auch nicht sein. Und gesetzt den Fall, er wäre da, ist doch das<br />

Lebensende: der Tod, immer von Leid begleitet. Wenn die Seeleute meinten, ihr Ziel sei das<br />

Vermeiden von Seegang, wo würden sie da hinkommen? Das Ziel des Lebens liegt außerhalb<br />

des Genusses!“ 1<br />

In diesen Zeilen tritt der christlich-asketische Charakter der Tolstoischen Ethik deutlich zutage.<br />

Wollte ich eine poetische Illustration zu dieser Lehre finden, dann würde ich zu der bekannten<br />

geistlichen Dichtung „Über die Himmelfahrt Christi“ greifen. Dort wird berichtet,<br />

wie sich das Bettelvolk von Christus, der eben gen Himmel auffährt, verabschiedet, und wie<br />

der anwesende Johannes Chrysostomus zu ihm spricht:<br />

[800]<br />

„Gib nicht den Bettlern einen steilen Berg,<br />

Keinen steilen Berg, keinen goldenen:<br />

Sie vermögen nicht, den Berg zu verwalten,<br />

Sie vermögen nicht, die Dukaten zu zählen,<br />

Sie untereinander aufzuteilen.<br />

Erfahren vom Berg die Fürsten und Bojaren,<br />

Erfahren vom Berg die Priester und Großen,<br />

Erfahren vom Berg die Handelsleut<br />

Und sie nehmen ihnen den steilen Berg,<br />

Und sie nehmen ihnen den goldenen Berg...<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

1 Ebenda, S. 58.<br />

10

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