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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Würde des feinfühligen Herrn. Auf solche Art wird selbst das Bewußtsein der menschlichen<br />

Würde vom Standesdünkel getrübt. Und gerade dieser Standesdünkel durchzieht die ganze<br />

Lehre des Grafen L. N. Tolstoi. Nur unter seinem Einfluß konnte er seinen Aufsatz „Das<br />

wirksame Mittel“ schreiben. Nur aus der Gewohnheit, die Unterdrückung unter dem Gesichtswinkel<br />

des moralischen Schadens zu betrachten, den sie den Unterdrückern zufügt,<br />

konnte der sterbende Tolstoi seinem Lande sagen: Ich lasse für dich kein anderes Recht gelten<br />

als das des Beitrags zur sittlichen Besserung deiner Peiniger!<br />

Es erübrigt sich, hinzuzufügen, daß nur ein Idealist wie Tolstoi in einem solchen Streben<br />

nach Gerechtigkeit. das seinem Wesen nach doch ungerecht war, aufrichtig bleiben konnte.<br />

Ein Materialist könnte in einem solchen Falle nicht ohne eine beträchtliche Dosis Zynismus<br />

auskommen. In der Tat gestattet nur der Idealismus, die moralischen Forderungen als etwas<br />

von den in der Gesellschaft bestehenden konkreten Verhältnissen zwischen den Menschen<br />

Unabhängiges zu betrachten. Bei Graf Tolstoi war jedoch dieser übliche Mangel des Idealismus<br />

infolge der ihm eigentümlichen „absoluten Konsequenz“ als Metaphysiker auf die Spitze<br />

getrieben; das drückte sich in der strikten Gegenüberstellung von „Ewigem“ und „Vergänglichem“,<br />

von Geist“ und „Körper“ aus. 1<br />

Da Tolstoi nicht imstande war, in seinem Blickfeld die Unterdrücker durch die Unterdrückten<br />

zu ersetzen – mit anderen Worten: vom Standpunkt der Ausbeuter auf den Standpunkt der<br />

Ausgebeuteten überzugehen –‚ mußte er natürlich seine Hauptanstrengungen darauf richten,<br />

die Unterdrücker moralisch zu bessern, sie zu bewegen versuchen, auf eine Wiederholung<br />

schlechter Handlungen zu verzichten. Deshalb hatte also seine moralische Predigt einen negativen<br />

Charakter angenommen. [798] Er sagt: „Zürne nicht! Buhle nicht! Schwöre nicht!<br />

Kämpfe nicht! Darin besteht für mich das Wesen der Lehre Christi.“ 2<br />

Das ist aber noch nicht alles. Ein Prediger, der sich die sittliche Erneuerung jener Menschen<br />

vorgenommen hat, die ihre Ausbeuterrolle verdorben hat, und der in seinem Blickfeld niemand<br />

anderen sieht als nur solche Menschen – dieser Prediger wird notgedrungen zum Individualisten.<br />

Graf Tolstoi hat den Mund sehr voll genommen, wie wichtig die „Einigkeit“ sei.<br />

Wie verstand er aber die .Praxis der „Einigkeit“? Folgendermaßen: „Wir werden das tun, was<br />

zur Einigkeit führt – uns Gott nähern; an die Einigkeit jedoch werden wir nicht denken. Ihr<br />

Zustandekommen wird sich nach unserer Vollkommenheit, unserer Liebe richten. Ihr sagt:<br />

‚Gemeinsam ist es leichter.‘ Was ist leichter? Pflügen, mähen, Pfähle einrammen – ja, das ist<br />

leichter, aber sich Gott nähern, das kann man nur einzeln.“ 3<br />

Das ist reinster Individualismus, der unter anderem auch jene Angst vor dem Tode erklärt, die<br />

in der Lehre Tolstois eine so große Rolle gespielt hat. Bereits Feuerbach hat behauptet – es ist<br />

dies die Fortführung eines von Hegel beiläufig geäußerten Gedankens –‚ daß die der neueren<br />

Menschheit eigentümliche Angst vor dem Tode, die die moderne religiöse Lehre von der Unsterblichkeit<br />

der Seele bedingt, ein Produkt des Individualismus sei. Den Worten Feuerbachs<br />

zufolge hat das individualistisch veranlagte Subjekt kein anderes Objekt als sich selbst, und<br />

es fühlt daher das unüberwindliche Bedürfnis, an seine Unsterblichkeit zu glauben. In der<br />

antiken Welt, der der christliche Individualismus unbekannt war, hatte das Subjekt nicht sich<br />

selbst zum Objekt, sondern die politische Gesamtheit, der es angehörte: seine Republik, seinen<br />

Stadtstaat. Feuerbach zitiert eine Bemerkung des heiligen Augustinus, wonach den Römern<br />

der Ruhm Roms die Unsterblichkeit ersetzt haben soll. Graf Tolstoi konnte sich an dem<br />

zweideutigen „Ruhm“ des russischen Staates ebensowenig berauschen wie an den ausbeuteri-<br />

1 Diese Seite des Gegenstandes wird von mir in einem anderen Aufsatz näher behandelt, auf den ich den Leser<br />

verweise. [Siehe in dem Aufsatz „Verwirrung der Begriffe“, S. 755-759.]<br />

2 „Reife Ähren“, S. 216.<br />

3 Ebenda, S. 75.<br />

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