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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Tiefe Tolstoi selbst ebensowenig ahnte wie die „ehrlichen, gebildeten“ Leute, die jetzt in einer<br />

wahren Orgie von Sentimentalität schwelgen. Graf Tolstoi war nicht nur ein Sohn unserer<br />

Aristokratie, er war lange Zeit hindurch ihr Ideologe – wenn auch allerdings nicht in jeder<br />

Hinsicht. 1 In seinen genialen Romanen wird das Leben unseres Adels zwar ohne heuchlerische<br />

Idealisierung, aber trotzdem von seiner besten Seite gezeigt. Die abscheuliche Seite dieses<br />

Lebens, die Aus-[796]beutung der Bauern durch die Gutsbesitzer, gab es für Tolstoi<br />

gleichsam gar nicht. 2 Darin offenbarte sich der sehr eigenartige, aber zugleich unüberwindliche<br />

Konservatismus unseres großen Künstlers. Doch dieser Konservatismus seinerseits hatte<br />

zur Folge, daß sich Tolstoi selbst dann, als er sich schließlich der negativen Seite der Lebensweise<br />

des Adels zuwandte und sie vom Standpunkt der Moral aus bewertete, wie ehedem<br />

für die Ausbeuter und nicht für die Ausgebeuteten interessierte. Wer das nicht sieht, wird nie<br />

zu einem richtigen Verständnis seiner Moral und Religion gelangen.<br />

In „Krieg und Frieden“ sagt Andrej Bolkonski zu Besuchow: „Und du willst also die Bauern<br />

frei machen? Das ist sehr gut; aber nicht für dich (soviel ich weiß, hast du niemals einen<br />

Menschen zu Tode prügeln oder nach Sibirien bringen lassen) und noch weniger für den<br />

Bauern... Nötig ist, was du beabsichtigst, nur für Menschen, die an ihrer Verantwortlichkeit<br />

moralisch zugrunde gehen, ihre Mißgriffe bereuen, die Reue unterdrücken und roh werden<br />

dadurch, daß sie die Möglichkeit haben, gerecht und ungerecht zu züchtigen. Da siehst du,<br />

wer mir leid tut und warum ich die Bauern frei machen möchte.“<br />

Natürlich hätte sich Tolstoi über die Bauern nie so geäußert wie Bolkonski in dem gleichen<br />

Gespräch: „Wenn man ihn schlägt, mit Ruten peitscht, nach Sibirien schickt, so glaube ich,<br />

daß ihm darum nicht schlechter zu Mute ist.“ Graf Tolstoi begriff, daß es ihnen denn doch<br />

weitaus schlechter gehen würde. Und doch beschäftigten ihn die leidenden Bauern unvergleichlich<br />

weniger als jene, die sie leiden machten, d. h. die Menschen seiner eigenen Klasse,<br />

die Adligen. Um dem Leser seine Stimmung leichter verständlich zu machen, verweise ich<br />

auf das Beispiel seines eigenen Bruders, N. N. Tolstoi.<br />

Feth erzählt, als N. N. Tolstoi ihn eines schönen Tages besuchte, geriet dieser in wilde Wut<br />

über seinen leibeigenen Kutscher, weil es dem eingefallen war, ihm, seinem Herrn, die Hand<br />

zu küssen. „Was fällt dem Vieh eigentlich ein, mir die Hand zu küssen?“ fragte er gereizt.<br />

„Das ist mir zeitlebens noch nicht passiert.“<br />

[797] Feth hielt es für nötig, hinzuzufügen, daß diese für den Kutscher recht wenig schmeichelhafte<br />

Bemerkung erst gefallen war, als sich dieser zu den Pferden begeben hatte 3 ; und ich<br />

bin bereit, das Feingefühl N. N. Tolstois anzuerkennen. Aber sein Feingefühl hat keineswegs<br />

jene Besonderheit seiner Psychologie beseitigen können, kraft deren er seinen Kutscher auch<br />

dann noch „Vieh“ nannte, als er die feste Überzeugung gewonnen hatte, daß ein Kuß auf die<br />

Hand des Herrn die menschliche Würde beleidige. Und wenn der Diener ein „Vieh“ bleibt,<br />

wessen Menschenwürde wird dann beleidigt, wenn er die Hand küßt? Augenscheinlich die<br />

1 Man darf nicht vergessen, daß er einer hochadligen, aber durchaus nicht mit Rang und Würden gesegneten Familie<br />

entstammte.<br />

2 Irtenjew sagt bei ihm („Jugendzeit“, Kapitel XXXI): „Meine beliebteste und hauptsächlichste Einteilung der<br />

Menschen war in jener Zeit, über die ich schreibe, in solche comme il faut und in solche comme il ne faut pas [unübersetzbare<br />

von „feinen Leuten“ gebrauchte Bezeichnung für ihresgleichen und „die anderen“, also etwa „wahrhaft<br />

fein, vornehm“ und „nicht fein, nicht vornehm“ (wörtlich: wie sich’s gehört)]. Die zweite Gruppe zerfiel noch<br />

in Leute, die im eigentlichen Sinne nicht comme il faut waren, und das gemeine Volk.“<br />

Keine einzige dieser beiden Unterarten hatte in den Augen des Grafen und Künstlers selbständiges Interesse. Und<br />

wenn das gemeine Volk tatsächlich auf der Bühne erscheint (zum Beispiel in „Krieg und Frieden“ oder in den<br />

„Kosaken“), so doch nur, um durch seine Ursprünglichkeit die Reflexion anzuzeigen, die die Leute comme il faut<br />

zernagt.<br />

3 „Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Biographie“, zusammengestellt von P. Birjukow, S. 355.<br />

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