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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Jahre spurlos vorübergegangen war, kann man das jedoch nicht sagen. Natürlich wäre es ungerecht,<br />

wollte man behaupten, er habe mit dem Geschlagenen kein Mitleid gehabt. Wir haben<br />

keine Veranlassung ihm nicht zu glauben, wenn er sagt, daß er mit beiden: sowohl mit<br />

dem Kind, das die Mutter züchtigt, als auch mit der Mutter, die die Qualen der Bosheit empfindet,<br />

in gleichem Maße Mitleid fühlt. Aber wenn ein Mensch vor unseren Augen einen anderen<br />

erwürgt und Sie mit beiden „in gleichem Maße“ Mitleid haben, so beweisen Sie damit,<br />

daß Sie in Wirklichkeit, ohne es selbst zu bemerken, mehr mit dem Würger als mit dem Gewürgten<br />

fühlen. Und wenn Sie zu alledem an die Umstehenden eine Rede halten und sagen,<br />

es sei unmoralisch, dem Gewürgten mit Gewalt zu helfen, das einzige erlaubte und „wirksame<br />

Mittel“ sei die moralische Besserung des Würgers, so stellen Sie sich noch offener auf die<br />

Seite des letzteren.<br />

Beachten Sie außerdem, wie Tolstoi den Zustand der handelnden Personen am Beispiel der<br />

Mutter schildert, die das Kind züchtigt: das Kind empfindet (physischen) „Schmerz“, während<br />

die Mutter erbost ist, d. h. „moralischen Schaden“ erleidet. Aber die physischen Leiden<br />

und Entbehrungen der Menschen haben Tolstoi immer schon wenig gekümmert; ihn interessierte<br />

ausschließlich ihre Moral. Deshalb war es für ihn ganz natürlich, die ganze Frage so zu<br />

stellen: Welches Übel würden wir der Mutter zufügen, indem wir ihr das Kind wegnehmen?<br />

Er fragt nicht, wie sich der körperliche Schmerz auf den moralischen Zustand des Kindes<br />

auswirken wird. So vergaß auch Irtenjew, weil er seine ganze Aufmerksamkeit auf die moralische<br />

Verfassung des edlen Nechljudow gerichtet hatte, ganz und gar den moralischen Zustand<br />

des gezüchtigten Waska.<br />

[795] Der letzte Aufsatz Tolstois gegen die Todesstrafe ist ein Aufruf zur Verteidigung der<br />

Henker. Wenn die Feinde der bestehenden politischen Ordnung den guten Rat befolgten, der<br />

ihnen in diesem Aufsatz erteilt wird, so müßten sie ihre Tätigkeit auf die Ermahnung beschränken,<br />

das Aufhängen sei eine „sehr schlechte Sache“ und sie hätten „das gar nicht von<br />

ihr erwartet“. Bestenfalls könnte das zur Folge haben, daß die Regierung unter P. A. Stolypin<br />

etwa antwortete: „Ich weiß und fühle, wie schlecht ich bin, und Gott sieht, wie ich wünsche<br />

und ihn anflehe, er möge mich bessern; aber was soll ich tun, wenn ich einen so unglücklichen<br />

und unausstehlichen Charakter habe?... Ich gebe mir alle Mühe, mich zu beherrschen,<br />

mich zu bessern, aber so von heut auf morgen geht das nicht, und allein erst recht nicht. Es<br />

müßte mich jemand unterstützen, mir dabei helfen.“<br />

Es ist leicht zu begreifen, daß sich die Lage des von der Regierung des Herrn Stolypin unterdrückten<br />

und ruinierten Rußlands dadurch ebensowenig bessern würde, wie sich der Zustand<br />

des verprügelten Waska besserte, indem sich Irtenjew mit Nechljudow in eine rührende Erklärung<br />

einließ.<br />

IV<br />

Die moralische Predigt des Grafen L. Tolstoi führte dazu, daß er – solange er sich mit ihr<br />

befaßte –‚ ohne es zu wollen oder zu bemerken, auf die Seite der Unterdrücker des Volkes<br />

trat. In seinem bekannten Aufruf „An den Zaren und seine Helfer“ 1* sagte er: „Wir wenden<br />

uns an euch alle, an den Zaren, an die Mitglieder des Reichsrates, an die Senatoren, an die<br />

Minister und an alle, die dem Zaren nahestehen, an alle, die die Macht haben, zur Beruhigung<br />

der Gesellschaft beizutragen und sie von den Leiden und Verbrechen zu erlösen; wir wenden<br />

uns an euch nicht als an Leute aus dem anderen Lager, sondern als an unfreiwillige Gesinnungsgenossen,<br />

als an unsere Kameraden und Brüder.“ 2 Das war eine Wahrheit, deren ganze<br />

1* Tolstois Ersuchen „An den Zaren und seine Helfer“ wurde schon früher in Nr. 20 der im Ausland erscheinenden<br />

„Listkow Swobodnowo Slowo“, Jahrgang 1901, gedruckt.<br />

2 „Äußerungen des Grafen L. N. Tolstoi zu den Tagesfragen in Rußland“, Berlin 1901, S. 13.<br />

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