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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Ich würde ihre Entzweiung (Sünde) mit dem Kinde nicht aufheben, sondern lediglich eine<br />

Sünde mehr, die Entzweiung mit mir, hinzufügen.<br />

Was ist da zu tun?<br />

Einzig und allein: sich an die Stelle des Kindes setzen – das wird das gescheiteste sein.“ 1<br />

Eine solche Art des Kampfes gegen das Böse könnte jedoch nur unter einer Bedingung Erfolg<br />

haben: wenn die böse Mutter über den Anblick des erwachsenen, fremden Menschen, der<br />

sich neben ihr Kind legt, so ins Staunen geriete, daß ihr die Rute aus der Hand fällt. Fehlte<br />

diese Voraussetzung, so würde er die „Entzweiung (Sünde)“ der Mutter mit dem Kinde nicht<br />

nur nicht beseitigen, sondern eine „neue Sünde“ hinzufügen – ihre „Entzweiung mit mir“: die<br />

Mutter könnte zum Beispiel „meine“ selbstlose Tat mit verächtlicher Miene aufnehmen und,<br />

ohne von ihr auch nur die geringste Notiz zu nehmen, in ihrer grausamen Beschäftigung fortfahren.<br />

Eben das war eingetreten, als Tolstoi mit seinem „Ich kann nicht schweigen!“ hervortrat.<br />

Er sagte so: „Deswegen schreibe ich ja – und was ich schreibe, werde ich mit allen Kräften in<br />

Rußland und außerhalb verbreiten –‚ damit eins von beiden geschieht: Entweder diese unmenschlichen<br />

Dinge hören auf, oder meine Verbindung mit diesen Dingen reißt ab; entweder<br />

man wirft mich ins Gefängnis, wo ich klar erkennen würde, daß man alle diese [791] Greuel<br />

nicht für mich tut, oder aber – und das wäre das beste (das wäre so gut, daß ich nicht einmal<br />

wage, von so viel Glück zu träumen) – man steckt mich in denselben Totenkittel wie die<br />

zwanzig oder die zwölf Bauern 2* und stößt mich ebenso von der Fußbank, auf daß sich die<br />

eingeseifte Schlinge durch meine eigene Schwere um meinen alten Hals zuziehe.“ 3<br />

Indem sich der Graf Tolstoi anbot, sich eine eingeseifte Schlinge um den Hals legen und von<br />

der Fußbank stoßen zu lassen, wiederholte er nur seinen vorigen Gedanken: wenn eine Mutter<br />

ihr Kind züchtigt, so können wir, die wir kein moralisches Recht haben, es ihr zu entreißen,<br />

uns nur an seine Stelle setzen. In der Praxis kam, wie ich schon sagte, nur eben heraus, was<br />

herauskommen mußte: die Henker setzten ihr Handwerk fort, als hätten sie die Bitte Tolstois:<br />

„Hängt mich mit ihnen!“ überhaupt nicht gehört. Allerdings hat das grelle Bild, das der große<br />

Künstler von den Henkern und ihren begangenen Greueltaten entworfen hatte, die öffentliche<br />

Meinung gegen die Regierung aufgebracht und damit die Chancen eines neuen Aufschwungs<br />

der revolutionären Bewegung bei uns etwas vergrößert. Aber bei seiner ablehnenden Einstellung<br />

zu dieser Bewegung konnte der „absolut konsequente“ Tolstoi ein ähnliches Nebenresultat<br />

wohl kaum beabsichtigt haben. 4<br />

Im Gegenteil; er fürchtete diese Bewegung. Das geht aus seinem letzten Aufsatz über die<br />

Todesstrafe hervor, den er im Opta-Kloster am 29. Oktober unter dem Titel „Das wirksame<br />

1 „Reife Ähren“, S. 210.<br />

2* Über die Hinrichtung der 20 Bauern siehe die Anmerkung zu dem Aufsatz „Verwirrung der Begriffe“: L. N.<br />

Tolstois Artikel „Ich kann nicht schweigen“ (1908) wurde anläßlich der Hinrichtung von zwanzig Bauern in Cherson<br />

am 9. Mai 1908 geschrieben und war gegen den Stolypinschen Terror gerichtet. Am festgesetzten Tag <strong>erschien</strong><br />

dieser Artikel gleichzeitig in mehreren Sprachen in Westeuropa und in russischen Zeitungen. Letztere wurden<br />

wegen des Abdrucks des Artikels von den Zensurbehörden bestraft.<br />

3 „Ich kann nicht schweigen!“, S. 40/41.<br />

4 Anmerkung für den scharfsinnigen Kritiker: In einem anderen Aufsatz sage ich, daß Tolstoi in seinem „Ich kann<br />

nicht schweigen!“ aufhört, Tolstojaner zu sein. Glauben Sie nicht, ich habe mir widersprochen. Dort betrachtete<br />

ich den Aufruf „Ich kann nicht schweigen!“ von einer anderen Seite, und zwar von der Seite des Verhaltens<br />

Tolstois zur „Proselytenmacherei“, die, wie er mit Recht meint, sich nur schlecht mit dem Geist seiner Doktrin<br />

verträgt. Indes muß man doch, um seine Werke zu schreiben und herauszugeben, bis zu einem gewissen Grade<br />

vom Geist der Proselytenmacherei erfüllt sein. [Siehe den Aufsatz „Verwirrung der Begriffe“, S. 758/759].<br />

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