erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 nung hat eigene Bedeutung und muß unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt werden, unter denen sie existiert“ 1 . Aber der „absolut konsequente“ Graf Tolstoi wollte und konnte niemals über gesellschaftliche Erscheinungen „unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie existieren“, urteilen. Deshalb vermochte er in seinen Predigten niemals über unbefriedigende „allgemeine, abstrakte Redereien“ hinauszukommen. Wenn viele „ehrliche“ und „gebildete“ Herren in diesen „allgemeinen, abstrakten Redereien“ jetzt irgendeine „Stärke“ sehen, dann zeugt das nur von ihrer eigenen Schwäche. Tschernyschewski stellt unter anderem auch die Frage nach der Gewaltanwendung. Er fragt: „Ist der Krieg verderblich oder wohltätig?“ – „Allgemein“, sagt er, „läßt sich hierauf keine bestimmte Antwort geben; man muß zuerst wissen, von was für einem Krieg die Rede ist, alles hängt von den Umständen, von Zeit und Ort ab. Für wilde Völker ist der Schaden des Krieges weniger, der Nutzen dagegen mehr spürbar; kultivierten Völkern bringt der Krieg weniger Nutzen und mehr Schaden. Der Krieg von 1812 aber war beispielsweise für das russische Volk eine Rettung; die Schlacht bei Marathon war eines der positivsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit.“ 2 Hätte es damals keine Zensur gegeben, Tschernyschewski hätte bestimmt noch andere Beispiele gefunden. Er hätte gesagt, daß es Fälle gibt, wo der Krieg im eigenen Lande, d. h. die revolutionäre Bewegung gegen die veraltete Ordnung, das segensreichste Ereignis in der Geschichte eines Volkes ist, ungeachtet dessen, daß die Revolutionäre der Gewaltanwendung der Ordnungshüter wohl oder übel gewaltsam entgegentreten müssen. Aber diese dialektischen Erwägungen, mit denen Tschernyschewski seine Gedanken stets untermauerte, blieben dem „absolut konsequenten“ Tolstoi ewig verschlossen, und nur deshalb konnte er unsere Revolutionäre in einen Topf mit unseren Ordnungshütern werfen. Mehr noch. Die Ordnungshüter mußten ihm weniger schädlich scheinen als die Revolutionäre. Im Jahre 1887 schrieb er: „Denken wir an das Rußland der letzten 20 Jahre. Wieviel aufrichtige Wünsche, Gutes zu tun, wieviel Opfer hat unsere junge Intelligenz gebracht, um die Wahrheit zu verkünden, um den Menschen Gutes zu tun. Und was ist herausgekommen? Nichts. Ja, schlimmer als das. Gewaltige Seelenkräfte sind vernichtet worden. Man hat die Zaunpfähle zerbrochen und die Erde [790] fester getreten als sie es war, so fest, daß der Spaten nicht mehr eindringt.“ 3 Wenn er die Revolutionäre in der Folgezeit vielleicht auch nicht mehr für so schädlich hielt wie die Ordnungshüter, in ihren Taten sah er doch nichts anderes als lauter schreckliche Verbrechen und Dummheit. 4 Und das war wiederum „absolut konsequent“. Seine Lehre: „Widerstrebe dem Bösen nicht gewaltsam!“ erläutert man am besten an Hand seiner folgenden Überlegung: „Wenn eine Mutter ihr Kind züchtigt, was tut mir dabei weh und was halte ich für ein Übel? Daß es dem Kind weh tut oder daß die Mutter statt Freude der Liebe die Qual der Bosheit verspürt? Und ich glaube, daß es sowohl in dem einen als auch in dem anderen Böses gibt. Ein einzelner Mensch kann nichts Böses tun. Das Böse ist die Entzweiung der Menschen. Und darum kann ich, wenn ich handeln will, nur etwas tun, um die Entzweiung aufzuheben und die Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind wiederherzustellen. Wie soll ich das anstellen? Die Mutter dazu zwingen? 1 N. G. Tschernyschewski, Werke, Bd. II, S. 187. [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1953, S. 601, deutsch.] 2 Ebenda, S. 187/188, Anm. [Zit. Werk, S. 602, Fußnote.] 3 „Reife Ähren“, S. 218. 4 L. N. Tolstoi, „Ich kann nicht schweigen !“, Berlin, Ausgabe Ladyshnikow, S. 26 ff. 3
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 Ich würde ihre Entzweiung (Sünde) mit dem Kinde nicht aufheben, sondern lediglich eine Sünde mehr, die Entzweiung mit mir, hinzufügen. Was ist da zu tun? Einzig und allein: sich an die Stelle des Kindes setzen – das wird das gescheiteste sein.“ 1 Eine solche Art des Kampfes gegen das Böse könnte jedoch nur unter einer Bedingung Erfolg haben: wenn die böse Mutter über den Anblick des erwachsenen, fremden Menschen, der sich neben ihr Kind legt, so ins Staunen geriete, daß ihr die Rute aus der Hand fällt. Fehlte diese Voraussetzung, so würde er die „Entzweiung (Sünde)“ der Mutter mit dem Kinde nicht nur nicht beseitigen, sondern eine „neue Sünde“ hinzufügen – ihre „Entzweiung mit mir“: die Mutter könnte zum Beispiel „meine“ selbstlose Tat mit verächtlicher Miene aufnehmen und, ohne von ihr auch nur die geringste Notiz zu nehmen, in ihrer grausamen Beschäftigung fortfahren. Eben das war eingetreten, als Tolstoi mit seinem „Ich kann nicht schweigen!“ hervortrat. Er sagte so: „Deswegen schreibe ich ja – und was ich schreibe, werde ich mit allen Kräften in Rußland und außerhalb verbreiten –‚ damit eins von beiden geschieht: Entweder diese unmenschlichen Dinge hören auf, oder meine Verbindung mit diesen Dingen reißt ab; entweder man wirft mich ins Gefängnis, wo ich klar erkennen würde, daß man alle diese [791] Greuel nicht für mich tut, oder aber – und das wäre das beste (das wäre so gut, daß ich nicht einmal wage, von so viel Glück zu träumen) – man steckt mich in denselben Totenkittel wie die zwanzig oder die zwölf Bauern 2* und stößt mich ebenso von der Fußbank, auf daß sich die eingeseifte Schlinge durch meine eigene Schwere um meinen alten Hals zuziehe.“ 3 Indem sich der Graf Tolstoi anbot, sich eine eingeseifte Schlinge um den Hals legen und von der Fußbank stoßen zu lassen, wiederholte er nur seinen vorigen Gedanken: wenn eine Mutter ihr Kind züchtigt, so können wir, die wir kein moralisches Recht haben, es ihr zu entreißen, uns nur an seine Stelle setzen. In der Praxis kam, wie ich schon sagte, nur eben heraus, was herauskommen mußte: die Henker setzten ihr Handwerk fort, als hätten sie die Bitte Tolstois: „Hängt mich mit ihnen!“ überhaupt nicht gehört. Allerdings hat das grelle Bild, das der große Künstler von den Henkern und ihren begangenen Greueltaten entworfen hatte, die öffentliche Meinung gegen die Regierung aufgebracht und damit die Chancen eines neuen Aufschwungs der revolutionären Bewegung bei uns etwas vergrößert. Aber bei seiner ablehnenden Einstellung zu dieser Bewegung konnte der „absolut konsequente“ Tolstoi ein ähnliches Nebenresultat wohl kaum beabsichtigt haben. 4 Im Gegenteil; er fürchtete diese Bewegung. Das geht aus seinem letzten Aufsatz über die Todesstrafe hervor, den er im Opta-Kloster am 29. Oktober unter dem Titel „Das wirksame 1 „Reife Ähren“, S. 210. 2* Über die Hinrichtung der 20 Bauern siehe die Anmerkung zu dem Aufsatz „Verwirrung der Begriffe“: L. N. Tolstois Artikel „Ich kann nicht schweigen“ (1908) wurde anläßlich der Hinrichtung von zwanzig Bauern in Cherson am 9. Mai 1908 geschrieben und war gegen den Stolypinschen Terror gerichtet. Am festgesetzten Tag erschien dieser Artikel gleichzeitig in mehreren Sprachen in Westeuropa und in russischen Zeitungen. Letztere wurden wegen des Abdrucks des Artikels von den Zensurbehörden bestraft. 3 „Ich kann nicht schweigen!“, S. 40/41. 4 Anmerkung für den scharfsinnigen Kritiker: In einem anderen Aufsatz sage ich, daß Tolstoi in seinem „Ich kann nicht schweigen!“ aufhört, Tolstojaner zu sein. Glauben Sie nicht, ich habe mir widersprochen. Dort betrachtete ich den Aufruf „Ich kann nicht schweigen!“ von einer anderen Seite, und zwar von der Seite des Verhaltens Tolstois zur „Proselytenmacherei“, die, wie er mit Recht meint, sich nur schlecht mit dem Geist seiner Doktrin verträgt. Indes muß man doch, um seine Werke zu schreiben und herauszugeben, bis zu einem gewissen Grade vom Geist der Proselytenmacherei erfüllt sein. [Siehe den Aufsatz „Verwirrung der Begriffe“, S. 758/759]. 4
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nung hat eigene Bedeutung und muß unter Berücksichtigung der Umstände beurteilt werden,<br />
unter denen sie existiert“ 1 .<br />
Aber der „absolut konsequente“ Graf Tolstoi wollte und konnte niemals über gesellschaftliche<br />
Erscheinungen „unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie existieren“, urteilen.<br />
Deshalb vermochte er in seinen Predigten niemals über unbefriedigende „allgemeine,<br />
abstrakte Redereien“ hinauszukommen. Wenn viele „ehrliche“ und „gebildete“ Herren in<br />
diesen „allgemeinen, abstrakten Redereien“ jetzt irgendeine „Stärke“ sehen, dann zeugt das<br />
nur von ihrer eigenen Schwäche.<br />
Tschernyschewski stellt unter anderem auch die Frage nach der Gewaltanwendung. Er fragt:<br />
„Ist der Krieg verderblich oder wohltätig?“ – „Allgemein“, sagt er, „läßt sich hierauf keine<br />
bestimmte Antwort geben; man muß zuerst wissen, von was für einem Krieg die Rede ist,<br />
alles hängt von den Umständen, von Zeit und Ort ab. Für wilde Völker ist der Schaden des<br />
Krieges weniger, der Nutzen dagegen mehr spürbar; kultivierten Völkern bringt der Krieg<br />
weniger Nutzen und mehr Schaden. Der Krieg von 1812 aber war beispielsweise für das russische<br />
Volk eine Rettung; die Schlacht bei Marathon war eines der positivsten Ereignisse in<br />
der Geschichte der Menschheit.“ 2 Hätte es damals keine Zensur gegeben, Tschernyschewski<br />
hätte bestimmt noch andere Beispiele gefunden. Er hätte gesagt, daß es Fälle gibt, wo der<br />
Krieg im eigenen Lande, d. h. die revolutionäre Bewegung gegen die veraltete Ordnung, das<br />
segensreichste Ereignis in der Geschichte eines Volkes ist, ungeachtet dessen, daß die Revolutionäre<br />
der Gewaltanwendung der Ordnungshüter wohl oder übel gewaltsam entgegentreten<br />
müssen. Aber diese dialektischen Erwägungen, mit denen Tschernyschewski seine Gedanken<br />
stets untermauerte, blieben dem „absolut konsequenten“ Tolstoi ewig verschlossen, und nur<br />
deshalb konnte er unsere Revolutionäre in einen Topf mit unseren Ordnungshütern werfen.<br />
Mehr noch. Die Ordnungshüter mußten ihm weniger schädlich scheinen als die Revolutionäre.<br />
Im Jahre 1887 schrieb er: „Denken wir an das Rußland der letzten 20 Jahre. Wieviel aufrichtige<br />
Wünsche, Gutes zu tun, wieviel Opfer hat unsere junge Intelligenz gebracht, um die<br />
Wahrheit zu verkünden, um den Menschen Gutes zu tun. Und was ist herausgekommen?<br />
Nichts. Ja, schlimmer als das. Gewaltige Seelenkräfte sind vernichtet worden. Man hat die<br />
Zaunpfähle zerbrochen und die Erde [790] fester getreten als sie es war, so fest, daß der Spaten<br />
nicht mehr eindringt.“ 3 Wenn er die Revolutionäre in der Folgezeit vielleicht auch nicht<br />
mehr für so schädlich hielt wie die Ordnungshüter, in ihren Taten sah er doch nichts anderes<br />
als lauter schreckliche Verbrechen und Dummheit. 4 Und das war wiederum „absolut konsequent“.<br />
Seine Lehre: „Widerstrebe dem Bösen nicht gewaltsam!“ erläutert man am besten an<br />
Hand seiner folgenden Überlegung:<br />
„Wenn eine Mutter ihr Kind züchtigt, was tut mir dabei weh und was halte ich für ein Übel?<br />
Daß es dem Kind weh tut oder daß die Mutter statt Freude der Liebe die Qual der Bosheit<br />
verspürt?<br />
Und ich glaube, daß es sowohl in dem einen als auch in dem anderen Böses gibt.<br />
Ein einzelner Mensch kann nichts Böses tun. Das Böse ist die Entzweiung der Menschen.<br />
Und darum kann ich, wenn ich handeln will, nur etwas tun, um die Entzweiung aufzuheben<br />
und die Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind wiederherzustellen.<br />
Wie soll ich das anstellen? Die Mutter dazu zwingen?<br />
1 N. G. Tschernyschewski, Werke, Bd. II, S. 187. [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften,<br />
Moskau 1953, S. 601, deutsch.]<br />
2 Ebenda, S. 187/188, Anm. [Zit. Werk, S. 602, Fußnote.]<br />
3 „Reife Ähren“, S. 218.<br />
4 L. N. Tolstoi, „Ich kann nicht schweigen !“, Berlin, Ausgabe Ladyshnikow, S. 26 ff.<br />
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