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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

teressen handelt. Er betrachtet auch seine eigenen Leiden in ihrer „Vergänglichkeit“, vom<br />

Standpunkt der Ewigkeit – oder will sie wenigstens so betrachten. Er argumentiert so: „Nun, es<br />

schmerzt mich der Zahn oder der Magen, oder ich habe Kummer, und es bricht mir das Herz.<br />

Nun, mag’s schmerzen, was geht das mich an. Entweder schmerzt es eine Weile und geht dann<br />

wieder vorüber, oder ich sterbe ohnehin an diesen Schmerzen. Weder im einen noch im anderen<br />

Fall ist das schlimm.“ 1 Das ist kein Egoismus, sondern eben jene Gleichgültigkeit gegen die<br />

Angelegenheiten des „Leibes“, die den ersten Christen so sehr eigen war und die wirklich am<br />

besten in den Worten Ausdruck findet: „Das Reich Gottes ist in euch.“<br />

Ein Mensch, der von einer solchen Gleichgültigkeit gegen die Angelegenheiten des „Leibes“<br />

erfaßt ist, kann sein Eigentum „aufgeben“ oder – wozu Tolstoi nicht rät, was aber die ersten<br />

Christen getan haben – den Armen geben. Aber er mischt sich niemals ein in den Kampf um<br />

die Herstellung solcher Beziehungen unter den Menschen, bei denen das „böse“ Eigentum<br />

unmöglich wäre. Und er hält sich einem solchen Kampf nicht nur fern, sondern er verurteilt<br />

ihn streng als ein schreckliches Übel. Für ihn ist, wie wir bereits wissen, keine andere „Befreiung<br />

vom Eigentum“ wünschenswert als die „innere“, d. h. die Befreiung mittels der „Erkenntnis,<br />

daß es keins (kein Eigentum. G. P.) gibt und geben kann“. Und deshalb hat Tolstoi<br />

vollkommen recht, wenn er sagt, es gebe keine Menschen, die ihm ferner stehen als die Revolutionäre,<br />

die das Eigentum „zertrümmern“ wollen. Das müssen wir zugeben, welchen Standpunkt<br />

wir auch selbst einnehmen mögen.<br />

V<br />

Die Überzeugung, daß ich nicht einmal einem tollwütigen Hund, der meinen Freund beißt, oder<br />

dem „Zulu“, der sich anschickt, meine Kinder zu braten, Widerstand leisten darf, schließt – so<br />

wie im Ganzen auch seine Teile enthalten sind – die Überzeugung ein, daß man an keiner der<br />

Aktionen teilhaben darf, die auf die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung gerichtet sind:<br />

Krieg mit dem äußeren oder „inneren“ Feind, [782] Gerichtsverhandlungen usw. Eine Ordnung,<br />

die nicht länger gestützt wird, ist vom Untergang bedroht, besonders wenn ihr das „böse“<br />

Eigentum zugrunde liegt, das die Ausbeutung der einen Gesellschaftsklasse durch eine andere<br />

zur Voraussetzung hat. Deshalb ist ein Mensch, dessen Lehre die Teilnahme an der Aufrechterhaltung<br />

der gesellschaftlichen Ordnung verbietet, ein Zerstörer dieser Ordnung. Und eben als<br />

solcher galt Tolstoi bei sehr vielen unserer Landsleute sowohl im rechten als auch im linken<br />

Lager. Man muß es sagen, wie es ist. Jene mehr oder weniger „fortgeschrittenen“ russischen<br />

Menschen, die ihn jetzt, noch ganz unter dem Eindruck seines Todes, der rasch auf seinen Fortgang<br />

von Jasnaja Poljana folgte, den großen Lehrer, das Gewissen Rußlands usw. <strong>nennen</strong>, sehen<br />

in ihm den Menschen, der nach dem gleichen „Ideal“ gestrebt hatte, nach welchem sie<br />

selbst streben, und der nur in der Frage der Mittel zur Erreichung dieses Ideals anderer Meinung<br />

war als sie. Aber das ist ein Irrtum, ein großer und beklagenswerter Irrtum, der von der<br />

äußersten Unklarheit unserer gesellschaftlichen Begriffe zeugt. Das „Ideal“ Tolstois hatte auch<br />

nicht das geringste mit dem fortschrittlichen Ideal unserer Zeit zu tun.<br />

Schon Rousseau hatte bemerkt, daß gute Christen schlechte Staatsbürger sein müssen, da ihre<br />

Religion, statt sie an den Staat zu binden, sie von allem Irdischen abkehrt. Seinen Gedanken<br />

noch klarer formulierend, fügt Rousseau hinzu, daß die Wörter „Staat“ (Rousseau sagt „Republik“)<br />

und „christlich“ einander ausschließen. 2 Und man muß blind sein, um nicht zu sehen, in<br />

welchem Maße das auf das Christentum Tolstois zutrifft: es war die Verneinung nicht nur die-<br />

1 Ebenda, S. 181.<br />

2 Rousseau, „Du Contrat social“, Buch IV, Kapitel VIII. Tolstoi schwärmte bekanntlich sehr für Rousseau. Aber<br />

auch das rührte von der „Verwirrung der Begriffe“ her. Das dialektische Denken des genialen Genfers war in seiner<br />

Art grundverschieden von dem metaphysischen Denken des großen Mannes von Jasnaja Poljana.<br />

7

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