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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

Natur, nur durch ihr Milieu erklärt werden“. Folglich muß man, um die Geschichte der Kunst<br />

und Literatur dieses oder jenes Landes zu verstehen, die Geschichte der Veränderungen studieren,<br />

die in der Lage seiner Bewohner vor sich gegangen sind. Das ist eine unbezweifelbare<br />

Wahrheit. Und man braucht nur die „Philosophie de l’art“ ‚ die „Histoire de la littérature anglaise“<br />

oder „Voyage en Italie“ zu lesen, und man findet eine Menge der klarsten und talentvollsten<br />

Illustrationen dafür. Aber Taine hielt, ähnlich wie Madame de Staël und seine anderen<br />

Vorgänger, an der idealistischen Geschichtsbetrachtung fest, und das hinderte ihn, aus der<br />

von ihm klar und talentvoll illustrierten unbezweifelbaren Wahrheit all den Nutzen zu ziehen,<br />

den der Literatur- und Kunsthistoriker aus ihr ziehen kann.<br />

Da der Idealist die Fortschritte des menschlichen Geistes als die letzte Ursache der historischen<br />

Entwicklung betrachtet, ergibt sich bei Taine, daß der Seelenzustand der Menschen<br />

durch ihre Lage bestimmt wird, und ihre Lage bestimmt wird durch ihren Seelenzustand.<br />

Daraus erwachsen eine Reihe Widersprüche und Schwierigkeiten, aus denen Taine, ähnlich<br />

wie die Philosophen des 18. Jahrhunderts, einen Ausweg durch Berufung [76] auf die<br />

menschliche Natur suchte, die bei ihm in Gestalt der Rasse <strong>erschien</strong>. Welche Türen ihm dieser<br />

Schlüssel öffnete, ist schon aus dem folgenden Beispiel zu ersehen. Bekanntlich hat die<br />

Renaissance in Italien eher begonnen als irgendwo sonst und überhaupt hat Italien eher als<br />

andere Länder mit der mittelalterlichen Lebensweise Schluß gemacht. Was hat diese Veränderung<br />

in der Lage der Italiener hervorgerufen? Die Eigenschaften der italienischen Rasse,<br />

sagt Taine. 1 Ich überlasse Ihnen das Urteil, ob diese Erklärung befriedigend ist, und gehe zu<br />

einem anderen Beispiel über. In Rom, im Palais Sciarra, sieht Taine eine Landschaft von<br />

Poussin und bemerkt aus diesem Anlaß, die Italiener fassen die Landschaft dank den besonderen<br />

Eigenheiten ihrer Rasse in einer besonderen Weise auf: sie ist für sie immer das Landhaus,<br />

nur ein Landhaus vergrößerten Ausmaßes, während die germanische Rasse die Natur<br />

um ihrer selbst willen liebt. 2 Und an anderer Stelle sagt Taine über Landschaften von Poussin:<br />

„... um sie wirklich mitzuempfinden, muß man die Tragödien, den klassischen Vers, die<br />

Aufgeblasenheit der Etikette und die herrschaftliche oder monarchische Erhabenheit lieben.<br />

Zwischen diesen Sentiments und dem modernen Fühlen liegt eine unendliche Entfernung.“ 3<br />

Warum gleichen jedoch die Gefühle unserer Zeitgenossen so gar nicht den Gefühlen der<br />

Menschen, die die aufgeblasene Etikette, die klassische Tragödie und den alexandrinischen<br />

Vers liebten? Vielleicht deshalb, weil zum Beispiel die Franzosen zur Zeit des „Sonnenkönigs“<br />

Menschen einer anderen Rasse waren als die Franzosen des 19. Jahrhunderts? Eine<br />

seltsame Frage! Hat uns doch derselbe Taine mit nachdrücklicher Überzeugung belehrt, die<br />

psychische Verfassung der Menschen veränderte sich im Gefolge der Veränderung ihrer Lage.<br />

Wir haben es nicht vergessen und sprechen es ihm nach: Die Lage der Menschen unserer<br />

Zeit ist äußerst weit entfernt von der Lage der Menschen des 17. Jahrhunderts, und darum<br />

gleichen ihre Gefühle gar nicht den Gefühlen der Zeitgenossen Boileaus und Racines. Es<br />

bleibt noch zu erfahren übrig, warum sich die Lage geändert hat, d. h. warum das ancien<br />

régime der jetzigen bürgerlichen Ordnung wich und warum jetzt in demselben Lande die<br />

Börse [77] regiert, in dem Ludwig XIV. fast ohne Übertreibung sagen konnte: „Der Staat –<br />

das bin ich!“? Aber das hat die ökonomische Geschichte dieses Landes in völlig befriedigender<br />

Weise beantwortet.<br />

Es ist Ihnen, sehr geehrter Herr, bekannt, daß Schriftsteller sehr verschiedener Standpunkte<br />

1 „Comme en Italie la race est précoce et que la croûte germanique ne l’a recouverte qu’a demi, l’âge moderne<br />

s’y développe plus tôt qu’ailleurs“ [„Da die italienische Rasse frühreif und nur zur Hälfte deutsch überkrustet<br />

ist, entwickelt sich das moderne Zeitalter hier früher als anderswo“] usw. [H. Taine,] „Voyage en Italie“, Paris<br />

1872, t. I, p. 273. [Paris 1905, p. 215.]<br />

2 Ebenda, Bd. I, S. 330. [Paris 1903, S. 260.]<br />

3 Ebenda, Bd. I, S. 331. [Ebenda.]<br />

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