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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

„Sie werden sagen: Warum setzen Sie dann Ihre Tätigkeit fort?<br />

Weil ich nicht anders kann; und dann, weil ich außer einer sehr schweren Bedrücktheit nichts<br />

anderes fühle und deshalb glaube, daß ich es nicht zur Befriedigung meiner selbst tue.<br />

Das Schwere liegt nicht in der Arbeit; im Gegenteil, die Arbeit ist erfreulich und hinreißend.<br />

Das Schwere liegt nicht in der Beschäftigung, zu der das Herz in keinerlei Beziehungen steht,<br />

sondern in der innerlichen, ständigen Empfindung der Scham vor sich selbst.“ 1<br />

Wessen schämte sich Tolstoi in diesem Falle eigentlich? Natürlich nicht dessen, daß er seinen<br />

Nächsten zu Hilfe gekommen war. Das war gut so. Schlecht war, seiner Meinung nach, der<br />

Umstand, daß er ihnen mit Geld aushalf, mit dem man ohnehin nichts Gutes tun kann. Wie<br />

soll man aber seinen Nächsten helfen? Man muß ihnen helfen, indem man ihnen das [766]<br />

Licht der wahren Lehre leuchten läßt. Tolstoi hätte nicht zu leiden und sich auch nicht zu<br />

schämen brauchen, wäre er konsequent geblieben. Er hätte konsequent bleiben, er hätte dem<br />

Geist seiner Lehre treu bleiben können, hätte er den Bauern im Hungergebiet auseinandergesetzt,<br />

wie sie nach dem Gesetz der Wahrheit zu leben haben: „Zürne nicht! Buhle nicht!<br />

Schwöre nicht! Kämpfe nicht!“ Glauben Sie nicht, ich wolle hier der Lehre Tolstois Übles<br />

nachreden. Ich erschließe nur ihre wahre Natur. Tolstoi blieb dieser Lehre treu und ergeben,<br />

als er schrieb:<br />

„Wenn man sich den Tod recht vorstellt und in seiner Seele das hervorruft, was die Angst vor<br />

ihm vernichtet (es gibt nur die Angst – den Tod gibt es nicht), dann reicht das, was man hervorruft,<br />

aus, um alle Ängste des Fleisches, des Wahnsinns und der Einzelhaft zu vernichten.<br />

Fünfundzwanzig Jahre Irrenhaus oder Einzelhaft erscheinen in jedem Falle nur als Verlängerung<br />

der Agonie; im Grunde genommen gibt es keine Verlängerung, weil angesichts des wahren<br />

Lebens, das uns gegeben ist, eine Stunde und tausend Jahre gleich sind.“ 2<br />

In diesen Zeilen erkennt man leicht den Denker, der die uns bereits bekannten Gründe ersonnen<br />

hat, warum man sich dem Bösen, dem Übel, nicht widersetzen soll: „Völlerei“, an der<br />

mein Freund, den ich heute vor einem tollwütigen Hund rette, „nach vielen Jahren“ stirbt; die<br />

Epidemie, die morgen meine Kinder dahinrafft, die ich heute den Händen des „Zulus“ entreiße.<br />

Wenn es für den Menschen, den man für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis geworfen<br />

hat, „keine Verlängerung der Agonie“ gibt, dann gibt es für einen Menschen, dem bevorsteht,<br />

zu verhungern, ebenfalls keine Vergrößerung der quälenden „Agonie“. Denn wenn im wahren<br />

Leben, das uns gegeben ist, eine Stunde und ein Jahrtausend gleich sind, dann ist es erst<br />

recht einerlei, woran wir sterben – ob an Hunger oder zum Beispiel an einer Typhusmikrobe.<br />

Darum also hielt sich Tolstoi für einen schlechten „Diener Gottes“, als er den hungernden<br />

Bauern half.<br />

Die Gegenüberstellung von „Vergänglichem“ und „Ewigem“ führte ihn dazu, daß er leiden<br />

mußte, einerlei, ob er den Forderungen des „Ewigen“ gehorchte oder dem „Vergänglichen“<br />

diente. Im ersten Falle stolperte er über die Grausamkeit, mit der er sich nicht abfinden konnte;<br />

im zweiten Falle konnte er keine moralische Sanktion für die Dienste finden, die er den<br />

Menschen erwies. In beiden Fällen mußte er sich selbst unbedingt für inkonsequent und<br />

schwach im Kampf gegen die Versuchungen vorkommen. In beiden Fällen hatte er unter dem<br />

Bewußtsein seiner Inkonsequenz und Schwäche schwer zu leiden. Hierin also lag das „Pathos“<br />

seiner Lebenstragödie!<br />

[767] Die Gegenüberstellung von „Vergänglichem“ und „Ewigem“ bedeutete den Bruch zwischen<br />

Moral und Leben; doch der Bruch zwischen Moral und Leben erzeugte in verhängnis-<br />

1 Ebenda, S. 190/191.<br />

2 „Reife Ähren“, S. 181/182.<br />

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