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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Das ist eine wahre Tragödie; ein Mensch muß wohl viel durchgemacht haben, dem diese Zeilen<br />

aus der Feder geflossen sind. Aber worin besteht denn das „Pathos“ dieser Tragödie (wie<br />

sich Belinski ausdrücken würde)? Tolstoi spricht von seinem ohnmächtigen Kampf gegen die<br />

ihn umstrickenden Versuchungen und will, daß man ihn selber beschuldige und nicht den<br />

Weg, den er gegangen war. Aber in Wirklichkeit spielten die Versuchungen, wenn sie auch<br />

da waren, längst nicht jene entscheidende Rolle, und nicht Tolstoi selbst war schuld, sondern<br />

gerade der Weg, den er gegangen war – besser gesagt: zu gehen versuchte!<br />

Dieser Weg führte in das tote Land des Quietismus. Doch Tolstoi war ein viel zu lebendiger<br />

Mensch, als daß er sich in diesem Lande wohlgefühlt hätte. Es trieb ihn zurück. Je stärker er<br />

aber versuchte, sich zu befreien, desto tiefer verfing er sich in den ausweglosesten und quälendsten<br />

Widersprüchen. Er kann in diesem unfruchtbaren Land des Quietismus nicht bleiben.<br />

Aber sobald er dessen Grenzen überschreitet, zwingt ihn die unbeugsame Logik seiner<br />

eigenen Lehre, die auf der Gegenüberstellung von „Ewigem“ und „Vergänglichem“, von<br />

„Geist“ und „Körper“ beruht, kehrtzumachen.<br />

Wir haben gesehen, daß man, dieser Lehre zufolge, in seinem Inneren das physische (tierische)<br />

Mitleid mit den Menschen nicht entwickeln soll. Die Aufgabe eines wahren Christen<br />

besteht nicht darin, die Menschen von physischen Leiden zu befreien. Heute haben Sie Ihren<br />

Freund vor einem tollwütigen Hund gerettet, und „viele Jahre später“ stirbt er an Völlerei.<br />

Was haben Sie nun erreicht? Das ist nicht alles. Kein Mensch kann einen anderen dazu bewegen,<br />

„Buße zu tun“. Deshalb freute sich Tolstoi, wie wir wissen, als in ihm der Wunsch,<br />

Proselyten zu machen, erstorben war. Von einer solchen Stimmung ergriffen, schrieb er:<br />

[765] „Ein Mensch, der das Leben so begriffen hat, wie es uns Christus zu verstehen lehrt,<br />

knüpft gleichsam von sich zu Gott einen Faden, verbindet sich mit ihm und reißt alle Seitenfäden<br />

entzwei, die ihn mit den Menschen verbinden (wie uns dies ja auch Christus befiehlt); er<br />

hält sich nur an dem einen göttlichen Faden und läßt sich im Leben nur von ihm allein leiten.“ 1<br />

Tolstoi verwandelt sich in eine Monade, die bekanntlich keine Fenster zur Straße hin besitzt.<br />

Seine Moral erhält rein negativen Charakter: „Zürne nicht! Buhle nicht! Schwöre nicht!<br />

Kämpfe nicht! Darin besteht für mich das Wesen der Lehre Christi.“ 2<br />

Obgleich die Monade keine Fenster zur Straße hin hat, hört doch die Straße nicht auf, für ihr<br />

Leben zu kämpfen, nach Genuß zu streben und von Zeit zu Zeit schwer zu leiden. Diese Leiden<br />

werden der Monade bekannt, und sie nimmt zu ihnen Stellung, weil ihr Herz besser ist<br />

als ihre Lehre. Tolstoi verläßt das fruchtlose Land des Quietismus.<br />

Im Jahre 1892 wird Rußland von einer „Mißernte an Getreideerzeugnissen“ heimgesucht. Die<br />

Bauern hungern. Tolstoi eilt ihnen zu Hilfe. 3* Verlassen wird das wohlhabende Leben in Jasnaja<br />

Poljana; es beginnt der tätige Dienst am Nächsten. Meinen Sie, Tolstoi sei glücklich gewesen,<br />

nun er sich vom „schweren Kreuz“ des Lebens in Jasnaja Poljana befreit hat? Weit<br />

gefehlt! Hören Sie:<br />

„Eine merkwürdige Sache! Wenn ich noch irgendwelche Zweifel hätte, ob man mit Geld Gutes<br />

stiften könne, so müßte ich jetzt, wo ich für Geld Getreide kaufe und einige tausend Menschen<br />

speise, restlos überzeugt sein, daß man mit Geld außer Bösem nichts stiften kann.“<br />

1 Ebenda, S. 24.<br />

2 Ebenda, S. 216.<br />

3* Tolstoi beteiligte sich in den Jahren 1891/92 an der Bekämpfung der Hungersnot, von der das Wolgagebiet<br />

heimgesucht wurde; er organisierte Gemeinschaftsessen, die Verteilung von Holz, Sämereien usw. Über die Hungersnot<br />

schrieb er Artikel, die in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregten: „Ein schreckliches Problem“ (datiert<br />

vom 1. November 1891 und gedruckt in Nr. 306 der „Russkije Wedomosti“, Jahrgang 1891, 6. November), „Briefe<br />

über die Hungersnot“ u. a.<br />

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