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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Menschenfresser – lehrt, wenn eine Mutter ihr Kind züchtigt, ist es das einzige, wozu wir<br />

berechtigt sind, der erzürnten Megäre unseren eigenen Rücken hinzuhalten. Die Zuhörer lachen<br />

nicht, sie fahren fort, in die Hände zu klatschen. Schließlich lehrt er, daß man auch tollwütigen<br />

Hunden keinen „Widerstand“ leisten solle. Seine Zuhörerschaft proklamiert ihn zum<br />

Gewissen Rußlands. Sobald er sich aber weigert, seine eigene Familie zu verbittern, wenn er<br />

sich nicht entschließen kann, seine Frau zu verstimmen, die jahrzehntelang sein Freund gewesen,<br />

ihm bei seinem gewaltigen literarischen Werk aufopferungsvoll zur Seite gestanden<br />

und mit ihm die heilige Begeisterung seines unvergleichlichen künstlerischen Schaffens geteilt<br />

hat, dann beginnt seine sentimentale Zuhörerschaft konfus zu werden und ihm hartnäckig<br />

zuzusetzen: Wann wirst du endlich aufhören, dir zu widersprechen? – Oh, ihr Weisen!<br />

IV<br />

In die Presse sickerte die Nachricht von einer interessanten Unterredung W. G. Tschertkows<br />

mit einigen Hörerinnen aus Bestushews Kursen 1* ein, die Jasnaja Poljana aufgesucht hatten.<br />

Nach den Worten des Herrn Tschertkow „hat Lew Nikolajewitsch Jasnaja Poljana deshalb<br />

nicht verlassen, ist er deshalb nicht aus dem Leben, das für ihn schwer war, in das Leben, das<br />

er für besser hielt, hinübergewechselt, weil er in solch einem Übergang einen egoistischen<br />

Schritt erblickt hätte“. 2* Das sind so gut wie die einzigen vernünftigen Worte, die seit dem<br />

„Auszug“ Tolstois aus seinem Stammnest gesprochen worden sind. Gerade das war es: ein<br />

egoistischer Schritt! Die Herren, die von ihrem „Lehrmeister“ einen solchen Schritt hartnäkkig<br />

forderten, hatten das nicht begriffen. Und nicht nur ein egoistischer Schritt – ein solcher<br />

Schritt, ich sage es nochmals, widersprach der ganzen Lehre Tolstois. Auch das wurde nicht<br />

verstanden.<br />

Es ist richtig, fügte Herr Tschertkow hinzu, Tolstoi empfand seinen Aufenthalt in Jasnaja<br />

Poljana als ein schweres Kreuz. Und mir wird es nicht einfallen, daran zu zweifeln.<br />

Ich entsinne mich gut der rührenden Zeilen, die als Antwort an die Leute gedacht waren, die<br />

ihn gefragt hatten: „Nun, und Sie, Lew Nikolajewitsch, Sie predigen und predigen, doch wie<br />

steht es mit der Erfüllung?“ Diese Zeilen atmen eine solche Aufrichtigkeit, sind mit so edler<br />

Kraft niedergeschrieben worden, daß der Leser sich ihrer wahrscheinlich mit tiefster Ergriffenheit<br />

erinnern wird:<br />

[764] „Ich antworte, daß ich schuldig und abscheulich bin, daß ich Verachtung verdiene, weil<br />

ich nicht erfülle; aber ich sage nicht so sehr zu meiner Entschuldigung als vielmehr zur Erklärung<br />

meiner Inkonsequenz: vergleicht mein Leben von gestern mit dem Leben von heute und<br />

ihr werdet sehen, daß ich mich bemühe, zu erfüllen. Ich habe freilich nicht einmal das Zehntausendstel<br />

erfüllt, das ist wahr, darin bekenne ich mich schuldig; aber nicht deshalb habe ich<br />

es nicht erfüllt, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht verstand. Lehrt mich, wie<br />

ich den Netzen der Versuchung entgehen kann, die mich umgarnt haben, und ich werde erfüllen;<br />

aber auch ohne Hilfe will ich es erfüllen und hoffe ich, es zu erfüllen. Beschuldigt mich,<br />

ich tue es selbst; aber beschuldigt mich und nicht den Weg, den ich gehe und den ich allen<br />

denjenigen weise, die mich fragen, wo meiner Meinung nach der Weg liegt.“ 3<br />

1* Aus einem Zirkel der fortschrittlichen Intelligenz, mit A. N. Beketow an der Spitze, wurde die Frauenhochschule<br />

gegründet, die man später, als Beketow kraft Zarenerlasses durch den Professor für russische Geschichte K. N.<br />

Bestushew-Rjumin ersetzt worden war, Bestushew-Kurse nannte. 1886 wurden sie, wie andere höhere Lehranstalten<br />

für Frauen, geschlossen und erst 1890, nach Erlassung einschränkender zaristischer Bestimmungen, wieder<br />

eröffnet. 1914 zählten die Bestushew-Kurse fast 7000 Hörerinnen.<br />

2* Das Gespräch W. G. Tschertkows mit den Hörerinnen des Bestushew-Instituts ist von ihm ausführlich erzählt in<br />

dem Buch „Tolstois Weggang“ (Moskau 1912, S. 8-15).<br />

3 „Reife Ähren“, S. 23.<br />

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