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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

tur des 17. Jahrhunderts widmet, ist ein äußerst interessanter Versuch, den vorherrschenden<br />

Charakter dieser Literatur durch die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse des damaligen<br />

Frankreichs und durch die Psychologie des französischen Adels, in seiner Beziehung zur<br />

Monarchie betrachtet, zu erklären.<br />

Hier finden sich viele äußerst feinsinnige Bemerkungen über die Psychologie der damals<br />

herrschenden Klasse und einige sehr gelungene Erwägungen über die Zukunft der französischen<br />

Literatur. „Man wird in Frankreich, unter einer Regierung anderer Art, dergleichen<br />

nicht mehr sehen“ (wie die Literatur des 17. Jahrhunderts), sagt Frau von Staël, „wie auch<br />

immer diese Regierung zusammengesetzt sein mag; und dann wird klar erwiesen sein, daß<br />

der sogenannte französische Geist, die französische Grazie nichts andres sind als die unmittelbare<br />

und notwendige Folge der monarchischen Einrichtungen und Sitten, wie sie in Frankreich<br />

mehrere Jahrhunderte hindurch bestanden haben“. 1 Diese neue Anschauung, die die<br />

Literatur als ein Produkt der Gesellschaftsordnung ansieht, gelangte in der europäischen Literaturkritik<br />

des 19. Jahrhunderts allmählich zur Herrschaft.<br />

In Frankreich wiederholt sie Guizot in seinen literarischen Aufsätzen. 2<br />

[75] Auch Sainte-Beuve spricht diese Anschauung aus; er übernimmt sie allerdings nicht ohne<br />

Vorbehalt; in den Werken Taines aber findet sie schließlich ihren vollen und glänzenden<br />

Ausdruck.<br />

Taine hielt an der Überzeugung fest, daß „jede Veränderung in der Lage der Menschen zu<br />

einer Veränderung ihrer psychischen Verfassung führt“.<br />

Aber die Literatur jeder Gesellschaft und ihre Kunst erklären sich gerade aus ihrem psychischen<br />

Zustand, weil die „Werke des menschlichen Geistes, wie auch die Werke der lebenden<br />

1 Ebenda, p. 15. [Œuvres complètes, t. N e , p. 577/578.]<br />

2 Die literarischen Ansichten Guizots verbreiten ein so helles Licht über die Entwicklung der historischen Ideen<br />

in Frankreich, daß es sich verlohnt, wenigstens flüchtig auf sie hinzuweisen. In seinem Buche „Vies des poètes<br />

français du siècle Louis“, Paris 1815, sagt Guizot, die griechische Literatur spiegele in ihrer Geschichte den<br />

natürlichen Entwicklungsweg des menschlichen Geistes wider, während sich die Sache bei den Völkern der<br />

Neuzeit viel komplizierter darstelle: hier hat man „mit einer ganzen Menge von Nebenursachen“ zu rechnen.<br />

Wenn er zur Geschichte der Literatur in Frankreich übergeht und diese „Neben“ursachen zu untersuchen beginnt,<br />

stellt sich heraus, daß sie alle in den gesellschaftlichen Verhältnissen Frankreichs wurzeln, unter deren<br />

Einfluß sich die Geschmacksrichtungen und Gewohnheiten seiner verschiedenen Gesellschaftsklassen und -<br />

schichten gebildet haben. In seinem „Essai sur Shakespeare“ betrachtet Guizot die französische Tragödie als die<br />

Widerspiegelung der Klassenpsychologie. Das Schicksal des Dramas ist, wie er meint, überhaupt eng mit der<br />

Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft. Aber die Betrachtung der griechischen Literatur als<br />

eines Produkts der „natürlichen“ [75] Entwicklung des menschlichen Geistes gibt Guizot auch zur Zeit der Herausgabe<br />

der „Abhandlung über Shakespeare“ nicht auf. Im Gegenteil, diese Anschauung findet ihr Gegenstück<br />

in seinen naturgeschichtlichen Ansichten. In seinen „Essais sur l’histoire de France“, die im Jahre 1821 <strong>erschien</strong>en,<br />

spricht Guizot den Gedanken ans, daß die politische Ordnung eines Landes durch sein „ziviles Leben“ bestimmt<br />

wird und daß das zivile Leben – wenigstens bei den Völkern der neuen Welt – mit dem Grundbesitz<br />

verbunden ist wie die Wirkung mit der Ursache. Das ist „wenigstens“ äußerst bemerkenswert. Es zeigt, daß<br />

Guizot das zivile Leben der antiken Völker, im Gegensatz zum Leben der Völker der neuen Welt, als das Produkt<br />

der „natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes“ und nicht als Ergebnis der Geschichte des Grundbesitzes<br />

und überhaupt ökonomischer Verhältnisse darstellte. Hier ist eine volle Analogie zur Anschauung über<br />

die ausnahmsweise Entwicklung der griechischen Literatur vorhanden. Wenn man hinzufügt, daß Guizot zur<br />

Zeit der Herausgabe seiner „Essais sur l’histoire de France“ in seinen publizistischen Schriften sehr leidenschaftlich<br />

und entschieden den Gedanken aussprach, daß Frankreich durch den „Klassenkampf geschaffen“<br />

wurde, so bleibt nicht der geringste Zweifel darüber, daß den neuen Historikern der Klassenkampf innerhalb der<br />

Gesellschaft der Neuzeit eher in die Augen sprang als derselbe Kampf im Schoße der [76] antiken Staaten. Interessanterweise<br />

haben die alten Historiker, z. B. Thukydides und Polybios, den Kampf der Klassen in ihrer<br />

zeitgenössischen Gesellschaft als etwas durchaus Natürliches und Selbstverständliches betrachtet, ungefähr so,<br />

wie unsere Gemeindebauern den Kampf zwischen den viel Land besitzenden und den landarmen Mitgliedern<br />

der Gemeinde betrachten.<br />

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