erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 Wenn man niemand verurteilen und niemand etwas vorschreiben darf, so liegt es doch auf der Hand, daß man die Außenwelt so lassen soll, wie sie bisher war. Man darf also nichts zu ihrer Verbesserung tun. „Das einzige, was möglich ist und was die Christen immer getan haben und auch [758] in Zukunft stets tun werden“, sagt Tolstoi, „das ist, sich glückselig zu fühlen und den Wunsch zu haben, den Schlüssel zur Glückseligkeit auch anderen Menschen zu vermitteln.“ 1 An einer anderen Stelle drückt er denselben Gedanken noch klarer aus: „Wenn du siehst, daß der Mensch, den du liebst, sündigt, so kannst du nichts sehnlicher wünschen, als daß er bereuen möge; dabei muß ich aber bedenken, daß er bestenfalls, d. h. bei bedingungsloser Aufrichtigkeit, nur im Rahmen seines Gewissens Buße tun kann, nicht aber in den Grenzen meines Gewissens. Die Forderungen meines Gewissens an mich sind weit höher als die Forderungen seines Gewissens an ihn, und es wäre höchst unvernünftig von mir, ihm in Gedanken die Forderungen meines Gewissens aufdrängen zu wollen. Außerdem soll man in solchen Fällen auch nicht vergessen, daß, so schuldig der Mensch auch sei, kein Streit mit ihm, keine Bloßstellung und keine Ermahnung an und für sich imstande sind, ihn zur Reue zu bewegen, da der Mensch nur selbst Buße tun und sonst niemand ihn dazu bringen kann.“ 2 Wenn also Streit, Bloßstellung und Ermahnung an und für sich nicht imstande sind, den Menschen zur Buße zu bewegen, braucht man dann überhaupt noch zu streiten, bloßzustellen und zu ermahnen? Wenn ein Mensch den anderen einfach nicht dazu bewegen kann, „Buße zu tun“, muß man dann die eigenen Ideen verbreiten? ... Nach Tolstoi ist das gar nicht nötig. Lesen Sie selbst: „Ich bin sehr froh darüber, daß der in mir einst sehr starke Wunsch, Proselyten zu machen, in den letzten drei Jahren ganz verschwunden ist. Ich bin so fest davon überzeugt, daß das, was für mich Wahrheit ist, auch Wahrheit für alle Menschen ist, und daß die Frage, wann und welche Menschen zu dieser Wahrheit gelangen, mich überhaupt nicht interessiert.“ 3 Aber welchen Sinn hat dann in diesem Falle das berühmte „Ich kann nicht schweigen!“ 4* von Tolstoi? Welchen Sinn hat dann seine Predigt gegen die Todesstrafe, die ihm in allen Ländern der zivilisierten Welt die aufrichtigsten Sympathien eingebracht hat? Nur den, daß Tolstoi nicht immer Tolstojaner geblieben ist. Nur den, daß er sich, die Unabhängigkeit der Außenwelt des Menschen von der Innenwelt einmal verkündet, von Zeit zu Zeit genötigt sah, diese Abhängigkeit anzuerkennen. Nur den, daß er, eine Kontrolle des Bewußtseins über das Sein einmal für unnötig [759] und unmöglich erklärt, sich genötigt sah, ihre Möglichkeit und Notwendigkeit anzuerkennen. Mit anderen Worten: nur den, daß seine Gegenüberstellung von „Ewigem“ und „Vergänglichem“ einer Kritik des Lebens nicht standhielt und daß er diese Gegenüberstellung von Zeit zu Zeit preisgeben mußte. Noch anders: Tolstoi erschien seinen Zeitgenossen nur dann als der große Lehrer des Lebens, wenn er seine Lehre vom Leben fallenließ! 1 „Reife Ähren“, S. 18. 2 Ebenda, S. 147/148. 3 Ebenda, S. 142. 4* L. N. Tolstois Artikel „Ich kann nicht schweigen“ (1908) wurde anläßlich der Hinrichtung von zwanzig Bauern in Cherson am 9. Mai 1908 geschrieben und war gegen den Stolypinschen Terror gerichtet. Am festgesetzten Tag erschien dieser Artikel gleichzeitig in mehreren Sprachen in Westeuropa und in russischen Zeitungen. Letztere wurden wegen des Abdrucks des Artikels von den Zensurbehörden bestraft. 5
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 III Und so war es nicht nur dort, wo es sich um die Todesstrafe handelte. So war es glattweg überall! Tolstoi sagt: „Eigentum ist eine Fiktion, die nur für jene existiert, die an Mammon glauben und ihm deshalb dienen. Ein Gläubiger in Christo befreit sich vom Eigentum nicht durch irgendeine Handlung, nicht durch die sofortige oder allmähliche Übergabe des Eigentums in andere Hände (da er die Bedeutung des Eigentums für sich nicht anerkennt, kann er seine Bedeutung auch für andere nicht anerkennen), sondern der Christ befreit sich von ihm innerlich, durch die Erkenntnis, daß es nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann, hauptsächlich aber dadurch, daß es weder ihm selbst noch anderen etwas nützt.“ 1 Wenn man für seine eigene Person dem Eigentum die Bedeutung aberkennt, dann kann man, um konsequent zu bleiben, für andere seine Bedeutung nicht anerkennen. Das ist richtig! Doch wenn das richtig ist, dann ist auch die Schlußfolgerung richtig, daß sich ein Christ vom Eigentum „innerlich“ frei zu machen hat und nicht durch irgendeine „Handlung“ – zum Beispiel durch Übergabe des Eigentums in andere Hände. Trotz des erstaunlichen künstlerischen Talents zeichnete sich Graf Tolstoi nicht gerade durch Stärke der Logik aus. Sehr häufig widersprach er sich selbst. Aber hier ist seine Logik unanfechtbar; hier sind seine Schlußfolgerungen nicht anzuzweifeln. Jetzt frage ich Sie, lieber Leser: Was soll man von den Menschen denken – vielleicht befanden auch Sie sich unter ihnen –‚ die nicht locker ließen, von dem Grafen Tolstoi eine „Handlung“ zu fordern, etwa in der Art der Übergabe seines Landbesitzes an die Bauern von Jasnaja Poljana, und die ganz betrübt waren, daß er bis zuletzt nicht so „handelte“? Meines Erachtens kann man von solchen Menschen – verzeihen Sie! – nur das eine sagen: sie sind gut, aber unklug! Jedenfalls haben sie den Grafen Tolstoi überhaupt nicht verstanden. [760] In demselben Buche „Reife Ähren“, in dem sich die soeben angeführte Stelle über das Eigentum befindet, finden wir noch folgende Überlegung: „Wenn Sie Ihr Eigentum einfach verlassen, ohne es irgend jemand zu übergeben (selbstverständlich, ohne den Menschen dadurch den Gedanken aufzuzwingen, daß Sie es absichtlich loszuwerden trachten), und dann zeigen würden, daß Sie nicht nur ebenso zufrieden, gut und glücklich mit Eigentum, sondern in noch viel stärkerem Maße ohne Eigentum sind, dann würden Sie auf die Menschen einen größeren Einfluß ausüben und ihnen mehr Gutes tun, als wenn Sie sie durch Aufteilung Ihres Überflusses anlockten.“ 2 Das scheint klar zu sein! Und im weiteren wird es noch klarer – wenn man sich überhaupt noch klarer ausdrücken kann: „Ich sage nicht, es erübrigt sich, auf andere einzuwirken oder ihnen zu helfen; im Gegenteil, ich bin der Auffassung, daß gerade darin der Sinn des Lebens liegt. Aber helfen muß man mit reinem Herzen und nicht mit unreinem Herzen – mit dem, was wir besitzen. Um wirklich helfen zu können, müssen wir vor allem, solange wir selbst nicht rein sind, uns läutern.“ 3 Graf Tolstoi „läuterte sich“ mit großem Eifer. Das erschien ihm und mußte ihm als die „Hauptsache“ erscheinen. Indes erwartete und forderte man von ihm eine „Handlung“, durch die er aber, wenn er sie ausgeführt hätte, sich selbst untreu geworden wäre. Wo bleibt da die Logik? 1 Ebenda, S. 153. 2 „Reife Ähren“, S. 159. 3 Ebenda. 6
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der Hand, daß man die Außenwelt so lassen soll, wie sie bisher war. Man darf also nichts zu<br />
ihrer Verbesserung tun. „Das einzige, was möglich ist und was die Christen immer getan haben<br />
und auch [758] in Zukunft stets tun werden“, sagt Tolstoi, „das ist, sich glückselig zu<br />
fühlen und den Wunsch zu haben, den Schlüssel zur Glückseligkeit auch anderen Menschen<br />
zu vermitteln.“ 1<br />
An einer anderen Stelle drückt er denselben Gedanken noch klarer aus: „Wenn du siehst, daß<br />
der Mensch, den du liebst, sündigt, so kannst du nichts sehnlicher wünschen, als daß er bereuen<br />
möge; dabei muß ich aber bedenken, daß er bestenfalls, d. h. bei bedingungsloser Aufrichtigkeit,<br />
nur im Rahmen seines Gewissens Buße tun kann, nicht aber in den Grenzen meines<br />
Gewissens.<br />
Die Forderungen meines Gewissens an mich sind weit höher als die Forderungen seines Gewissens<br />
an ihn, und es wäre höchst unvernünftig von mir, ihm in Gedanken die Forderungen<br />
meines Gewissens aufdrängen zu wollen.<br />
Außerdem soll man in solchen Fällen auch nicht vergessen, daß, so schuldig der Mensch auch<br />
sei, kein Streit mit ihm, keine Bloßstellung und keine Ermahnung an und für sich imstande<br />
sind, ihn zur Reue zu bewegen, da der Mensch nur selbst Buße tun und sonst niemand ihn<br />
dazu bringen kann.“ 2<br />
Wenn also Streit, Bloßstellung und Ermahnung an und für sich nicht imstande sind, den<br />
Menschen zur Buße zu bewegen, braucht man dann überhaupt noch zu streiten, bloßzustellen<br />
und zu ermahnen? Wenn ein Mensch den anderen einfach nicht dazu bewegen kann, „Buße<br />
zu tun“, muß man dann die eigenen Ideen verbreiten? ... Nach Tolstoi ist das gar nicht nötig.<br />
Lesen Sie selbst:<br />
„Ich bin sehr froh darüber, daß der in mir einst sehr starke Wunsch, Proselyten zu machen, in<br />
den letzten drei Jahren ganz verschwunden ist. Ich bin so fest davon überzeugt, daß das, was<br />
für mich Wahrheit ist, auch Wahrheit für alle Menschen ist, und daß die Frage, wann und<br />
welche Menschen zu dieser Wahrheit gelangen, mich überhaupt nicht interessiert.“ 3<br />
Aber welchen Sinn hat dann in diesem Falle das berühmte „Ich kann nicht schweigen!“ 4* von<br />
Tolstoi? Welchen Sinn hat dann seine Predigt gegen die Todesstrafe, die ihm in allen Ländern<br />
der zivilisierten Welt die aufrichtigsten Sympathien eingebracht hat? Nur den, daß Tolstoi nicht<br />
immer Tolstojaner geblieben ist. Nur den, daß er sich, die Unabhängigkeit der Außenwelt des<br />
Menschen von der Innenwelt einmal verkündet, von Zeit zu Zeit genötigt sah, diese Abhängigkeit<br />
anzuerkennen. Nur den, daß er, eine Kontrolle des Bewußtseins über das Sein einmal für<br />
unnötig [759] und unmöglich erklärt, sich genötigt sah, ihre Möglichkeit und Notwendigkeit<br />
anzuerkennen. Mit anderen Worten: nur den, daß seine Gegenüberstellung von „Ewigem“ und<br />
„Vergänglichem“ einer Kritik des Lebens nicht standhielt und daß er diese Gegenüberstellung<br />
von Zeit zu Zeit preisgeben mußte. Noch anders: Tolstoi <strong>erschien</strong> seinen Zeitgenossen nur dann<br />
als der große Lehrer des Lebens, wenn er seine Lehre vom Leben fallenließ!<br />
1 „Reife Ähren“, S. 18.<br />
2 Ebenda, S. 147/148.<br />
3 Ebenda, S. 142.<br />
4* L. N. Tolstois Artikel „Ich kann nicht schweigen“ (1908) wurde anläßlich der Hinrichtung von zwanzig Bauern<br />
in Cherson am 9. Mai 1908 geschrieben und war gegen den Stolypinschen Terror gerichtet. Am festgesetzten Tag<br />
<strong>erschien</strong> dieser Artikel gleichzeitig in mehreren Sprachen in Westeuropa und in russischen Zeitungen. Letztere<br />
wurden wegen des Abdrucks des Artikels von den Zensurbehörden bestraft.<br />
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