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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

schenlebens abhängt, und sich einem „Zulu“ auch dann nicht widersetzen, wenn ich dadurch<br />

„meine Kinder“ retten kann.<br />

Es ist unangenehm, von einem Zulu aufgefressen zu werden, und [755] unangenehm ist es,<br />

von einem tollwütigen Hund gebissen zu werden. Aber das sind Unannehmlichkeiten rein<br />

körperlicher Natur; man soll ihnen keine große Bedeutung beimessen. Heute hat man Sie vor<br />

einem tollwütigen Hund gerettet, „nach vielen Jahren“ aber sterben Sie an Völlerei; heute hat<br />

man „meine Kinder“ den Händen eines blutrünstigen „Zulus“ entrissen, morgen aber rafft sie<br />

irgendeine Seuche hinweg. Man soll das Gefühl des Mitleids zum Leib nicht übertreiben –<br />

die Seele ist mehr als der Leib. Und die Seele kann sich selbst mit einer Gewalt nicht abfinden,<br />

die im offensichtlichen Interesse des Leibes erfolgt.<br />

Man glaube nicht, Tolstoi spreche nur über fremde Leiden gleichgültig! Nein, er betrachtet<br />

auch seine eigenen Leiden – zumindest tut er so – mit derselben Gleichmut. Er sagt: „Nun, es<br />

schmerzt mich der Zahn oder der Magen, oder ich habe Kummer, und es bricht mir das Herz.<br />

Nun, mag’s schmerzen, was geht das mich an. Entweder schmerzt es eine Weile und geht<br />

dann wieder vorüber, oder ich sterbe ohnehin an diesen Schmerzen. Weder im einen noch im<br />

anderen Fall ist das schlimm.“ 1 Das ist kein Egoismus, sondern einfach Geringschätzung des<br />

„Leibes“ im Namen der „Seele“. Eine solche Geringschätzung war einst den Christen eigen.<br />

Von dieser Seite aus gesehen, hat die Lehre Tolstois vieles mit dem Christentum gemein.<br />

An einer anderen Stelle sagt er: „Man muß an die Stelle der irdischen, vergänglichen Dinge<br />

das Ewige setzen – das ist der Weg des Lebens, und den müssen wir gehen.“ 2 Hier hat bei<br />

ihm die Gegenüberstellung des Weltlichen, Vergänglichen und des Ewigen denselben Sinn<br />

wie die oben angeführte Gegenüberstellung der Interessen des Leibes und der Interessen der<br />

Seele. Wenn Sie ihm theoretisch und praktisch Recht zuerkennen, werden Sie selbst zugeben<br />

müssen, daß sein Verhalten dem Zulu gegenüber völlig berechtigt ist. Wichtig ist doch nur<br />

das Ewige, und der Zulu ist nicht ewig: die von ihm zugefügten Leiden sind nur zeitlich. Dasselbe<br />

gilt auch für die Ruten, dasselbe auch für den tollwütigen Hund. Die Logik hat ihre unbestreitbaren<br />

Rechte.<br />

II<br />

Die Lehre Tolstois vom Verzicht auf Widerstand gegen das Böse beruht als Ganzes auf der<br />

Gegenüberstellung von „Ewigem“ und „Vergänglichem“, von „Geist“ und „Körper“. Unterziehen<br />

wir nun diese Gegenüberstellung einer genaueren Betrachtung.<br />

[756] In der Form, wie sie bei Tolstoi zutage tritt, ist sie gleichbedeutend mit der Gegenüberstellung<br />

der Innenwelt des Menschen, die unter dem Gesichtswinkel der moralischen Bedürfnisse<br />

und Bestrebungen betrachtet wird, und der den Menschen umgebenden Außenwelt. Der<br />

eigene Körper eines jeden Individuums erscheint hierbei, ebenso wie der Körper eines jeden<br />

seiner Nächsten, als ein Bestandteil der Außenwelt. Das ist eine Art Gegenüberstellung von<br />

Sein und Bewußtsein. Sie ist in der Geschichte des Denkens nicht selten anzutreffen; aber bei<br />

Tolstoi nimmt sie so große Formen an, daß alle ihr eigentümlichen Widersprüche besonders<br />

kraß hervortreten.<br />

Das Bewußtsein ist nicht unabhängig vom Sein. Es wird zunächst von ihm bestimmt und<br />

wirkt dann wieder auf das Sein zurück, womit es ihm zu seiner weiteren Selbstbestimmung<br />

verhilft. Das begreifen mehr oder weniger oder „fühlen instinktiv“ nicht nur die Menschen,<br />

sondern auch viele höhere Tiere. Hörte die Welt der höheren Lebewesen auf, diese Wahrheit<br />

zu fühlen, so müßte sie ihren Kampf ums Dasein einstellen, d. h., sie würde vom Antlitz der<br />

1 Ebenda, S. 181.<br />

2 Ebenda, S. 176.<br />

3

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