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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[752]<br />

Verwirrung der Begriffe*<br />

(Die Lehre L. N. Tolstois)<br />

I<br />

Über Tolstoi wird jetzt sehr viel geredet. Je mehr man aber über ihn redet, desto mehr verdunkelt<br />

man, wenn natürlich auch unbewußt, den wahren Sinn seiner Lehre. Man kann wohl<br />

ohne Übertreibung sagen, über Tolstoi ist weit mehr Unsinn zusammengeredet worden als<br />

über irgendeinen anderen Schriftsteller. Es schadet daher nichts, sich noch einmal ins Gedächtnis<br />

zurückzurufen, was Tolstoi eigentlich gelehrt hat.<br />

Er meinte, seine Lehre sei nichts anderes als die richtig verstandene Lehre Christi, die in den<br />

Worten zum Ausdruck kommt: „Widerstrebet nicht dem Bösen.“ In dem Buche „Worin besteht<br />

mein Glaube?“ sagt er: „Diese Worte: ‚Widerstrebet nicht dem Bösen oder dem Übel‘,<br />

aufgefaßt im wahrsten Sinne ihrer Bedeutung, waren für mich gleichsam ein Schlüssel, der<br />

mir alles erschloß. Mir war es selber schleierhaft, wie ich diese klaren, eindeutigen Worte so<br />

mißdeuten konnte. Euch wurde gesagt: Zahn um Zahn; ich aber sage: Widerstrebet nicht dem<br />

Bösen oder dem Übel, und was die Bösen auch mit dir anstellen mögen, nimm es auf dich,<br />

gib nach, und widerstrebe nicht dem Bösen oder dem Übel. Was kann es Klareres, Verständlicheres<br />

und Offensichtlicheres geben? Und ich brauchte diese Worte nur einfach und<br />

schlicht, so wie sie gesagt wurden, zu begreifen, schon wurde in der ganzen Lehre Christi,<br />

nicht nur in der Bergpredigt, sondern auch in allen Evangelien, alles, was verworren schien,<br />

verständlich, was widerspruchsvoll war, widerspruchslos, und die Hauptsache: was überflüssig<br />

schien, wurde von Wichtigkeit. Alles verschmolz zu einem einheitlichen Ganzen, und wie<br />

von selbst fand sich eins zum anderen gleich Scherben einer zerschlagenen Statue, die wieder<br />

so zusammengefügt werden, wie sie sein sollen.“ 1<br />

Man meinte, Tolstoi irremachen zu können, wenn man ihn fragte: Doch was würden Sie tun,<br />

wenn Zulus kämen und Ihre Kinder braten wollten? 2<br />

Er aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen.<br />

[753] „Alle Menschen sind Brüder“, antwortete er, „alle sind sie gleich. Und wenn Zulus<br />

kämen, um meine Kinder zu braten, so wäre das einzige, was ich tun könnte, ihnen begreiflich<br />

zu machen, daß es für sie unvorteilhaft und nicht recht sei – ich müßte es ihnen begreiflich<br />

machen, mich aber gleichzeitig ihrer Gewalt beugen. Dies um so mehr, als ich nicht die<br />

Absicht haben könnte, mit den Zulus zu kämpfen. Entweder sie überwältigen mich und braten<br />

meine Kinder erst recht, oder ich bewältige sie, und meine Kinder befällt morgen eine<br />

Krankheit, an der sie unter noch größeren Qualen elendig zugrunde gehen.“ 3<br />

Hier ist manches unklar, ja direkt schleierhaft – zumindest auf den ersten Blick. Am überraschendsten<br />

ist der Hinweis, daß meine Kinder, die ich heute den Händen der blutrünstigen Zulus<br />

entreiße, morgen doch an einer Krankheit zugrunde gehen werden. Unwillkürlich erhebt<br />

sich die Frage: geschieht ihnen das wirklich um der Sünden des Vaters willen? Nun, wir werden<br />

gleich sehen, daß das nicht so seltsam ist, wie es zunächst scheint. Ferner bleibt unklar, wie<br />

* Anmerkungen zu: Verwirrung der Begriffe (S. 752-772) am Ende des Kapitels.<br />

1 L. N. Tolstoi, „Worin besteht mein Glaube?“, 1909, S. 14.<br />

2 Jener, der ihm diese Frage stellte, hielt die Zulus offenbar für Menschenfresser. Das ist ein Fehler, auf den man<br />

hier nicht näher einzugehen braucht.<br />

3 „Reife Ähren“, Sammlung von Gedanken und Aphorismen aus dem Briefwechsel L. N. Tolstois, mit Erlaubnis<br />

des Verfassers zusammengestellt von D. R. Kudrjawzew, Genf 1896, S. 220.<br />

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