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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

nicht! Kämpfe nicht! Darin besteht für mich das Wesen der Lehre Christi.“ 1 Und diese negative<br />

Moral stand in ihrer Einseitigkeit unvergleichlich niedriger als jene positive moralische<br />

Lehre, die von Menschen ausgearbeitet worden war, die „das Glück des Volkes“ und „sein<br />

Los“ allem vorangestellt hatten. Und wenn diese Menschen jetzt bereit sind, in Tolstoi ihren<br />

Lehrmeister und ihr Gewissen zu sehen, so gibt es hierfür nur eine Erklärung: die schweren<br />

Lebensverhältnisse haben in ihnen den Glauben an sich selbst und ihre eigene Lehre erschüttert.<br />

Natürlich ist es sehr schade, daß es so gekommen ist. Aber wir wollen hoffen, daß es<br />

bald wieder anders werde. Trotz aller Begeisterung für Tolstoi hört man das bereits ganz<br />

deutlich heraus. Ich glaube, je höher diese Begeisterung anschwillt, um so näher rückt die<br />

Zeit, wo diese Menschen, die sich mit der negativen Moral nicht begnügen, erkennen werden,<br />

daß Tolstoi nicht ihr Lehrmeister der Moral sein kann. Das mag paradox klingen, ist aber<br />

wirklich so.<br />

Man wird mir sagen: der Tod Tolstois hat doch die ganze zivilisierte Welt aus der Fassung<br />

gebracht. Ich werde antworten: Ja, aber blickt z. B. nach Westeuropa, und ihr werdet selbst<br />

sehen, wer dort Tolstoi „schlechthin“ liebt und wer ihn „bis dahin und nicht weiter“ liebt.<br />

„Schlechthin“ [751] lieben ihn (mit mehr oder weniger Aufrichtigkeit und Intensität) die<br />

Ideologen der herrschenden Klassen, d. h. jene, die selbst bereit sind, sich mit einer negativen<br />

Moral zu begnügen und die, eben weil sie keine weiteren gesellschaftlichen Interessen haben,<br />

bestrebt sind, ihre seelische Leere mit verschiedenen religiösen Wahrheiten auszufüllen. Und<br />

„bis dahin und nicht weiter“ lieben Tolstoi jene bewußten Vertreter der werktätigen Bevölkerung,<br />

die sich mit der negativen Moral nicht begnügen und die keine Veranlassung haben,<br />

qualvoll nach dem Sinn ihres Lebens zu forschen, weil sie ihn schon lange „freudig“ in der<br />

Bewegung zum hohen gesellschaftlichen Ziel gefunden haben.<br />

„Von wo“ und „bis wohin“ lieben die Menschen dieser zweiten Kategorie Tolstoi?<br />

Das läßt sich leicht beantworten. Die Menschen dieser zweiten Kategorie schätzen in Tolstoi<br />

den Schriftsteller, der die Unzulänglichkeit unserer heutigen Gesellschaftsordnung tief empfunden<br />

hat, obwohl er den Kampf für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse,<br />

denen er völlig gleichgültig gegenübergestanden, nicht begriffen hatte. Und das Wichtigste:<br />

sie schätzen in ihm den Schriftsteller, der sein gewaltiges künstlerisches Talent dazu benutzt<br />

hat, dieses Unbefriedigende anschaulich, wenngleich nur episodisch, darzustellen.<br />

„Von hier“ „bis dahin“ lieben Tolstoi alle wirklich fortschrittlichen Menschen unserer Zeit.<br />

1 L. N. Tolstoi, „Reife Ähren“, S. 216.<br />

7

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