18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[749] Was sehen wir hier? Die Sorge um das persönliche Glück befriedigt Tolstoi nicht, die<br />

Sorge um den Wohlstand des Volkes erst recht nicht („Was geht das dich an?“). Es entsteht<br />

eine seelische Leere, die tatsächlich jegliche Lebensmöglichkeit nimmt. Sie heißt es um jeden<br />

Preis auszufüllen. Aber womit? Entweder mit der Sorge um das persönliche Wohlergehen<br />

oder mit der Sorge um den Wohlstand des Volkes oder schließlich mit beidem zugleich. Wir<br />

haben aber gesehen, daß Tolstoi die Sorge um das persönliche Wohlergehen unbefriedigt und<br />

die Sorge um den Wohlstand des Volkes kalt ließ; deshalb konnte auch aus der Vereinigung<br />

der beiden Sorgen nichts Rechtes werden. Und das will heißen, daß es weder im persönlichen<br />

noch im gesellschaftlichen Leben etwas gab, was die seelische Leere unseres sich herumquälenden<br />

Künstlers ausfüllen konnte. Wohl oder übel mußte er sich von der Erde dem Himmel<br />

zuwenden, d. h. die dringende Antwort auf die Frage: „Wozu lebe ich?“ in „jemandes fremden<br />

Willen“ suchen. Eben darin liegt die Erklärung dafür, daß Tolstoi die Haltlosigkeit seines<br />

Kinderglaubens nicht bemerkte. Der Standpunkt der Teleologie erwies sich in seiner Lage als<br />

unausweichlich. Nicht er selbst verwüstete seine Seele: sie wurde von den ihn umgebenden<br />

Verhältnissen verwüstet. Und als er ihre Leere zu spüren begann und sie mit irgendeinem<br />

Inhalt ausfüllen wollte, da konnte er aus besagtem Grund keinen anderen Inhalt finden als<br />

den, der von oben kam, der ihm von einem „jemandes Willen“ diktiert wurde. Das ist alles.<br />

Kann man mit einem Menschen „freudig“ zusammenleben, der weder im persönlichen noch<br />

im gesellschaftlichen Leben etwas findet, was ihn begeistern und fesseln kann? Das ist nicht<br />

nur nicht „freudig“, das ist direkt „unheimlich“. War doch das Leben gerade ihm selbst unheimlich<br />

und ohne Freude. Eine Freude war es, mit jenen Zeitgenossen Tolstois zusammen<br />

zu leben, die sich mit den Worten des bekannten Liedes von Nekrassow sagten:<br />

Los meines Volkes,<br />

Glück und Gericht:<br />

Vor allen Dingen –<br />

Freiheit und Licht!<br />

[750] Tolstoi aber war in einer ganz anderen Stimmung. Der Gedanke an das Glück und das<br />

Los des Volkes machten keinen Eindruck auf ihn; er wurde von der gleichgültigen Frage verdrängt:<br />

„Was geht das mich an?“ Das eben ist es, weshalb er unserer Befreiungsbewegung<br />

fernblieb. Ebendeshalb begreifen die Menschen, die mit dieser Bewegung sympathisieren,<br />

weder sich selbst noch Tolstoi, wenn sie ihn einen „Lehrmeister des Lebens“ <strong>nennen</strong>. Das<br />

Unglück Tolstois bestand ja gerade darin, daß er weder sich noch andere lehren konnte, wie<br />

sie leben sollen.<br />

Tolstoi war bis an sein Lebensende Grandseigneur. Anfangs genoß dieser Grandseigneur ungestört<br />

alle jene Lebensgüter, die ihm seine privilegierte Klasse bot. Später – und darin zeigte<br />

sich der Einfluß der Menschen, die sich um das Glück des Volkes und sein Wohlergehen Gedanken<br />

gemacht hatten – kam er zu der Überzeugung, daß die Ausbeutung des Volkes, die<br />

Quelle dieser Güter, unmoralisch sei. Und er kam zur Einsicht, daß „jemandes Wille“, der<br />

ihm das Leben geschenkt hatte, ihm verbiete, das Volk auszubeuten. Es kam ihm aber dabei<br />

nicht in den Sinn, daß es nicht genüge, auf die Ausbeutung des Volkes zu verzichten, sondern<br />

daß die Errichtung solcher Lebensverhältnisse notwendig sei, unter denen jegliche Teilung<br />

der Gesellschaft in Klassen und folglich auch die Ausbeutung einer Klasse durch die andere<br />

in Wegfall käme. Seine Morallehre blieb rein negativ: „Zürne nicht! Buhle nicht! Schwöre<br />

Ähren“*, Sammlung von Gedanken und Aphorismen, aus dem Briefwechsel L. N. Tolstois, mit Erlaubnis des<br />

Verfassers zusammengestellt von D. R. Kudrjawzew, Genf 1896, S. 114.) – [* Unter diesem Titel ließ der<br />

Tolstojaner P. I. Birjukow durch die Schweizer Filiale des Verlags „Swobodnoje Slowo“ die drei Briefe L. N.<br />

Tolstois: an Kantor (1910), an J. J. Lasarew (1886) und an E. Krosbi (1896), als Sonderbroschüre erscheinen.]<br />

6

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!