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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

wicklungsweg des menschlichen Geistes... Homer kennzeichnet die erste Epoche der griechischen<br />

Literatur; im Jahrhundert des Perikles verzeichnet man einen raschen Fortschritt der<br />

dramatischen Kunst, der Beredsamkeit, der Moral und die ersten Anfänge der Philosophie;<br />

zur Zeit Alexanders wird ein sehr eingehendes Studium der philosophischen Wissenschaften<br />

zur Hauptbeschäftigung der hervorragenden Schriftsteller. Es ist zweifellos ein gewisses<br />

Entwicklungsniveau des menschlichen Geistes notwendig, um zur Höhe der Poesie zu gelangen;<br />

aber dessenungeachtet muß dieser Teil der Literatur an Wirkung verlieren, sobald die<br />

Fortschritte der Zivilisation und der Philosophie alle die Irrtümer der Phantasie korrigiert.“ 1<br />

[73] Das bedeutet, daß die Poesie eines Volkes, das aus der Epoche der Jugend herausgetreten<br />

ist, unbedingt irgendwie in Verfall geraten muß.<br />

Frau von Staël wußte, daß die Völker der Neuzeit trotz aller geistigen Fortschritte nicht eine<br />

einzige dichterische Schöpfung hervorgebracht haben, die man höher als die „Ilias“ oder die<br />

„Odyssee“ stellen könnte. Dieser Umstand drohte ihre Überzeugung von der beständigen und<br />

beharrlichen Vervollkommnung der Menschheit zu erschüttern, und deshalb wollte sie sich<br />

von der aus dem 18. Jahrhundert als Erbe übernommenen Theorie der verschiedenen Altersstufen,<br />

die sie mit der angegebenen Schwierigkeit leicht fertigwerden ließ, nicht trennen.<br />

Wir sehen in der Tat, daß sich der Niedergang der Poesie vom Standpunkt dieser Theorie als<br />

Zeichen geistiger Reife der zivilisierten Völker der neuen Welt erwies. Aber sobald Frau von<br />

Staël, diese Vergleiche beiseite lassend, zur Literaturgeschichte der Völker der Neuzeit<br />

übergeht, versteht sie es, diese unter einem ganz anderen Gesichtspunkt zu betrachten. In<br />

diesem Sinne sind besonders die Kapitel ihres Buches interessant, in denen von der französischen<br />

Literatur die Rede ist. „Die französische Heiterkeit, der gute französische Geschmack“,<br />

bemerkt sie in einem dieser Kapitel, „sind in allen Ländern Europas sprichwörtlich geworden,<br />

und man schreibt diesen Geschmack im allgemeinen dem Nationalcharakter zu; was ist aber<br />

der Nationalcharakter, wenn nicht das Ergebnis der Einrichtungen und Umstände, die das<br />

Glück eines Volkes, seine Interessen und seine Gewohnheiten beeinflussen. Seitdem diese<br />

Umstände und diese Einrichtungen sich geändert haben, und selbst in den ruhigsten Momenten<br />

der Revolution, haben selbst die pikantesten Kontraste nicht Anlaß zu einem einzigen<br />

Epigramm oder zu einem einzigen scharfsinnigen Witz gegeben. Viele der Männer, die großen<br />

Einfluß auf die Geschicke Frankreichs ausgeübt haben, waren aller Gewähltheit des Ausdrucks<br />

und des sprühenden Geistes entblößt; vielleicht verdankten sie einen Teil ihres Einflusses<br />

gerade der Dunkelheit, Verschwiegenheit und kalten Grausamkeit sowohl ihrer Manieren<br />

als auch ihrer Gefühle.“ 2 Für uns ist hier weder wichtig, auf wen diese Zeilen anspielen,<br />

noch auch in welchem Maße die in ihnen enthaltene Anspielung der Wirklichkeit entspricht.<br />

Wir haben nur zu beachten, daß, nach der Meinung der Frau von Staël, der Nationalcharakter<br />

eine Schöpfung der historischen Verhältnisse ist. Aber was ist denn der Nationalcharakter,<br />

wenn nicht die Natur des Menschen, wie sie in den geistigen Eigenarten einer Nation<br />

in Erscheinung tritt?<br />

Und wenn die Natur einer Nation durch ihre historische Entwicklung [74] geschaffen wurde,<br />

konnte sie offenbar nicht der erste Antrieb dieser Entwicklung sein. Und hieraus folgt, daß<br />

die Literatur – die Widerspiegelung der nationalen Geistesnatur – das Produkt der gleichen<br />

historischen Verhältnisse ist, durch die diese Natur geschaffen wurde. Das heißt, nicht die<br />

Natur des Menschen, nicht der Charakter eines Volkes, sondern seine Geschichte und sein<br />

Gesellschaftsaufbau erklären uns seine Literatur. Von diesem Standpunkt aus betrachtet nun<br />

Frau von Staël auch die Literatur Frankreichs. Das Kapitel, das sie der französischen Litera-<br />

1 „De la littérature“ etc.; Paris, an VIII, p. 8. [M me de Staël, „De la littérature“, Œuvres complètes, t. IV e , Paris<br />

1820, pp. 76/77.]<br />

2 „De la littérature“, II, pp. 1/2. [Œuvres complètes, t. IV e , pp. 366/67.]<br />

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