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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

ders ausgedrückt: „Jemandes Wille“ verlangt von uns Dienst am Guten und an der Wahrheit.<br />

Oder noch anders: „Jemandes Wille“ ist für uns die einzige Quelle der Wahrheit und des Guten.<br />

Tolstoi meint, daß die Menschen, gäbe es keinen „jemandes Willen“, der sie zum Guten<br />

und zur Wahrheit hinführte, im Bösen und in Verirrungen versinken müßten. Das ist das, was<br />

Feuerbach Verwüstung der menschlichen Seele nennt. Alles Gute wird ihr genommen und<br />

„jemandes Willen“ zugeschrieben, der den Menschen und auch die ganze übrige Welt erschaffen<br />

haben soll. Tolstoi verwüstet die menschliche Seele endgültig, wenn er sagt, „alles<br />

Gute im Menschen ist nur das Göttliche in ihm“. Nun frage ich die Herren Homunculus,<br />

Wolodin und alle, die in ihren Auffassungen über Tolstoi übereinstimmen: Ist es nicht „unheimlich“,<br />

mit einem Menschen „zu leben“, der sich einer solchen Verwüstung der menschlichen<br />

Seele verschrieben hat? Ich werde solange behaupten, es sei wirklich unheimlich, solange<br />

man mir nicht das Gegenteil beweist.<br />

Übrigens, ich habe mich ungenau ausgedrückt, als ich sagte, Tolstoi habe sich der Verwüstung<br />

der menschlichen Seele verschrieben. Um sich [748] exakter auszudrücken, müßte man<br />

etwa sagen: Tolstoi hielt die menschliche Seele für leer und war bemüht, sie mit einem guten<br />

Inhalt auszufüllen. Da er in ihr selbst keine Quelle finden konnte, appellierte er an „jemandes<br />

Wille“. Wie entstand jedoch diese stets wiederkehrende Vorstellung von der Leere der<br />

menschlichen Seele?<br />

Bei dieser Frage bitte ich den Leser, sich an das zu erinnern, was ich bereits gesagt habe: daß<br />

nämlich Tolstoi auf dem Wege bestimmter Überlegungen, verstärkt durch ein bestimmtes<br />

Gefühl, zum Glauben gekommen ist. Die verstandesmäßige Seite dieses Prozesses ist uns<br />

jetzt schon ziemlich klar. Es ist leicht zu begreifen, daß ein Mensch, der sich den Standpunkt<br />

der Teleologie einmal angeeignet hat, inkonsequent handelte, wenn er sich als eine selbständige<br />

Quelle der Moral zu betrachten fortführe. Aber wir wissen bereits, daß die zur Teleologie<br />

führenden Überlegungen einer ernsten Kritik nicht standhalten. Was hinderte Tolstoi,<br />

diese schwache Seite seiner Überlegungen zu erkennen? Ich habe diese Frage zum Teil bereits<br />

beantwortet, als ich sagte, der Kinderglaube habe in Tolstois Seele tiefe Spuren hinterlassen.<br />

Jetzt möchte ich von einer anderen Seite an die Angelegenheit herangehen. Ich möchte<br />

feststellen, wie jene Stimmung in Tolstoi aufkommen konnte, auf Grund deren er sich an<br />

den Kinderglauben wie an den einzig möglichen Rettungsanker festklammerte und die Augen<br />

vor seiner Haltlosigkeit verschloß. Hierzu muß ich mich erneut seiner „Beichte“ zuwenden.<br />

Tolstoi, der erzählt, wie es gekommen sei, daß die Ideenströmungen der sechziger Jahre ihn<br />

unberührt gelassen hatten, und wie sein Leben „in der Familie, Frau und Kindern, und<br />

deshalb in der Sorge um die Verbesserung des Lebensunterhaltes“ aufgegangen sei, berichtet<br />

dann, daß er schwere Stunden der Verzagtheit und des Zweifels habe durchmachen müssen:<br />

„Mitten in meinen Gedanken an die Wirtschaft, die mich damals sehr beschäftigten“, sagt er,<br />

„fuhr es mir plötzlich durch den Kopf: ‚Nun gut, du wirst 6000 Deßjatinen Land haben, im<br />

Gouvernement Samara 300 Pferde, aber was dann...?‘ Und ich wurde vollkommen durcheinander<br />

und wußte nicht, woran ich noch denken sollte. Oder, als ich anfing, mir darüber Gedanken<br />

zu machen, wie ich die Kinder erziehen werde, sagte ich mir: ‚Wozu?‘ Oder, als ich<br />

überlegte, wie das Volk zum Wohlstand kommen kann, sagte ich mir plötzlich: ‚Was geht das<br />

dich an?‘ Oder, bei dem Gedanken an den Ruhm, den mir meine Werke einbringen werden,<br />

sagte ich mir: ‚Nun gut, du wirst berühmter als Gogol, Puschkin, Shakespeare, Molière, als<br />

alle Schriftsteller der Welt – nun, was ist da schon dabei?‘ – Und ich konnte keine Antwort<br />

finden.“ 1<br />

1 L. N. Tolstoi, „Beichte“, S. 45. An einer anderen Stelle äußert er sich noch schärfer: „Wichtig ist es, Gott als<br />

seinen Herrn anzuerkennen und zu wissen, was [749] er von mir verlangt; aber was er selbst ist und wie er lebt,<br />

das werde ich niemals ergründen, weil ich ihm nicht ebenbürtig bin. Ich bin Knecht, er ist der Herr.“ („Reife<br />

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