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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 hatte, als sein Verstand die ihm bekannten Beweise von der Existenz Gottes einen nach dem andern verwarf. Damals fühlte er, daß sein Leben „stehenbleibe“, und damals begann er sich wieder und immer wieder zu beweisen, daß es einen Gott gebe. Wie aber beweisen? Nun, so: „Und wieder und immer wieder, von den verschiedensten Seiten her, kam ich zu derselben Einsicht, daß ich doch nicht ohne jeden Grund, ohne jede Ursache und Sinn auf diese Welt gekommen sein kann, daß ich nicht ein so aus dem Nest gefallener Vogel bin, als welcher ich mir vorgekommen bin. Angenommen, ich sei ein herausgefallener Nestling, liege auf dem Rücken und piepse im hohen Gras; ich piepse aber doch, weil ich weiß, daß mich eine Mutter ausgetragen, ausgebrütet, gewärmt, gefüttert und geliebt hat. Wo ist sie, diese Mutter? Wenn man mich verlassen hat, dann frage ich, wer hat mich von sich gestoßen? Ich kann vor mir nicht leugnen, daß mich jemand mit Liebe zur Welt gebracht hat. Wer ist aber dieser Jemand? – Wiederum: Gott!“ 1 So überlegen alle religiösen Menschen, ganz gleich, ob sie an einen oder mehrere Götter glauben. Das Hauptmerkmal solcher Überlegungen besteht in ihrer völligen logischen Haltlosigkeit: sie setzten eben das voraus, was bewiesen werden soll – die Existenz eines Gottes. Hat man erst einmal die Existenz eines Gottes vorausgesetzt und ihn nach eigenem Ebenbild geschaffen, kann man ohne große Kraftanstrengung alle Erscheinungen der Natur und des gesellschaftlichen Lebens erklären. Bereits Spinoza hat sehr treffend gesagt, daß „die Menschen gemeiniglich annehmen, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selber, um eines Zweckes willen, und sogar als gewiß behaupten, daß Gott selbst alles auf einen bestimmten Zweck hinleite – sagen sie doch, Gott habe alles um des Menschen willen gemacht, den Menschen aber, damit dieser ihn verehre...“ 2 Das ist es ja gerade, was bei Tolstoi vorausgesetzt wird: die Teleologie (der Standpunkt der Zielstrebigkeit). Es wäre verlorene Liebesmüh, wollte man sich darüber auslassen, daß die Erklärungen, zu denen auf dem Standpunkt der Teleologie stehende Menschen gelangen, in Wirklichkeit nichts erklären und bei der leisesten Berührung mit einer ernsthaften Kritik gleich Kartenhäusern in sich zusammenfallen. Man muß aber bemerken, daß Tolstoi das [747] nicht verstehen konnte oder wollte. Das Leben schien ihm nur möglich, wenn er sich auf den Standpunkt der Teleologie stellte: „Sobald ich mir bewußt wurde“, sagt er, „daß eine Kraft existiert, in deren Gewalt ich mich befinde, fühlte ich sofort die Möglichkeit des Lebens.“ 3 Es ist verständlich, warum: der Sinn des Lebens wurde in diesem Falle durch den Willen des Wesens bestimmt, dessen Gewalt sich Tolstoi ausgeliefert hatte. Es blieb nur übrig, zu gehorchen und nicht zu grübeln. Tolstoi drückt das so aus: „Das Leben der Welt vollzieht sich nach jemandes Willen, jemand vollbringt mit diesem Leben der ganzen Welt und mit unserm Leben ein ihm eigentümliches Werk. Will man die Hoffnung haben, den Sinn dieses Willens zu begreifen, so muß man ihn vor allem erfüllen, das tun, was man von uns will. Und wenn ich nicht tue, was man von mir will, so werde ich auch nie begreifen, was man von mir will; und noch weniger, was man von uns allen und von der ganzen Welt verlangt.“ 4 II Was verlangt aber von uns allen und von der ganzen Welt dieser „jemandes Wille“? Tolstoi antwortet: „Der Wille ... dessen, der uns gesandt, ist ein vernünftiges (rechtschaffenes) Leben der ganzen Welt. Folglich ist der Sinn des Lebens: – Wahrheit in die Welt zu tragen.“ 5 An- 1 Ebenda, S. 47. 2 Spinoza, „Ethica“, S. 44. [„Ethik“, Leipzig 1949, S. 40.] 3 L. N. Tolstoi, „Beichte“, S. 47. 4 Ebenda, S. 45. 5 Ebenda, S. 47. 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 ders ausgedrückt: „Jemandes Wille“ verlangt von uns Dienst am Guten und an der Wahrheit. Oder noch anders: „Jemandes Wille“ ist für uns die einzige Quelle der Wahrheit und des Guten. Tolstoi meint, daß die Menschen, gäbe es keinen „jemandes Willen“, der sie zum Guten und zur Wahrheit hinführte, im Bösen und in Verirrungen versinken müßten. Das ist das, was Feuerbach Verwüstung der menschlichen Seele nennt. Alles Gute wird ihr genommen und „jemandes Willen“ zugeschrieben, der den Menschen und auch die ganze übrige Welt erschaffen haben soll. Tolstoi verwüstet die menschliche Seele endgültig, wenn er sagt, „alles Gute im Menschen ist nur das Göttliche in ihm“. Nun frage ich die Herren Homunculus, Wolodin und alle, die in ihren Auffassungen über Tolstoi übereinstimmen: Ist es nicht „unheimlich“, mit einem Menschen „zu leben“, der sich einer solchen Verwüstung der menschlichen Seele verschrieben hat? Ich werde solange behaupten, es sei wirklich unheimlich, solange man mir nicht das Gegenteil beweist. Übrigens, ich habe mich ungenau ausgedrückt, als ich sagte, Tolstoi habe sich der Verwüstung der menschlichen Seele verschrieben. Um sich [748] exakter auszudrücken, müßte man etwa sagen: Tolstoi hielt die menschliche Seele für leer und war bemüht, sie mit einem guten Inhalt auszufüllen. Da er in ihr selbst keine Quelle finden konnte, appellierte er an „jemandes Wille“. Wie entstand jedoch diese stets wiederkehrende Vorstellung von der Leere der menschlichen Seele? Bei dieser Frage bitte ich den Leser, sich an das zu erinnern, was ich bereits gesagt habe: daß nämlich Tolstoi auf dem Wege bestimmter Überlegungen, verstärkt durch ein bestimmtes Gefühl, zum Glauben gekommen ist. Die verstandesmäßige Seite dieses Prozesses ist uns jetzt schon ziemlich klar. Es ist leicht zu begreifen, daß ein Mensch, der sich den Standpunkt der Teleologie einmal angeeignet hat, inkonsequent handelte, wenn er sich als eine selbständige Quelle der Moral zu betrachten fortführe. Aber wir wissen bereits, daß die zur Teleologie führenden Überlegungen einer ernsten Kritik nicht standhalten. Was hinderte Tolstoi, diese schwache Seite seiner Überlegungen zu erkennen? Ich habe diese Frage zum Teil bereits beantwortet, als ich sagte, der Kinderglaube habe in Tolstois Seele tiefe Spuren hinterlassen. Jetzt möchte ich von einer anderen Seite an die Angelegenheit herangehen. Ich möchte feststellen, wie jene Stimmung in Tolstoi aufkommen konnte, auf Grund deren er sich an den Kinderglauben wie an den einzig möglichen Rettungsanker festklammerte und die Augen vor seiner Haltlosigkeit verschloß. Hierzu muß ich mich erneut seiner „Beichte“ zuwenden. Tolstoi, der erzählt, wie es gekommen sei, daß die Ideenströmungen der sechziger Jahre ihn unberührt gelassen hatten, und wie sein Leben „in der Familie, Frau und Kindern, und deshalb in der Sorge um die Verbesserung des Lebensunterhaltes“ aufgegangen sei, berichtet dann, daß er schwere Stunden der Verzagtheit und des Zweifels habe durchmachen müssen: „Mitten in meinen Gedanken an die Wirtschaft, die mich damals sehr beschäftigten“, sagt er, „fuhr es mir plötzlich durch den Kopf: ‚Nun gut, du wirst 6000 Deßjatinen Land haben, im Gouvernement Samara 300 Pferde, aber was dann...?‘ Und ich wurde vollkommen durcheinander und wußte nicht, woran ich noch denken sollte. Oder, als ich anfing, mir darüber Gedanken zu machen, wie ich die Kinder erziehen werde, sagte ich mir: ‚Wozu?‘ Oder, als ich überlegte, wie das Volk zum Wohlstand kommen kann, sagte ich mir plötzlich: ‚Was geht das dich an?‘ Oder, bei dem Gedanken an den Ruhm, den mir meine Werke einbringen werden, sagte ich mir: ‚Nun gut, du wirst berühmter als Gogol, Puschkin, Shakespeare, Molière, als alle Schriftsteller der Welt – nun, was ist da schon dabei?‘ – Und ich konnte keine Antwort finden.“ 1 1 L. N. Tolstoi, „Beichte“, S. 45. An einer anderen Stelle äußert er sich noch schärfer: „Wichtig ist es, Gott als seinen Herrn anzuerkennen und zu wissen, was [749] er von mir verlangt; aber was er selbst ist und wie er lebt, das werde ich niemals ergründen, weil ich ihm nicht ebenbürtig bin. Ich bin Knecht, er ist der Herr.“ („Reife 5

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hatte, als sein Verstand die ihm bekannten Beweise von der Existenz Gottes einen nach dem<br />

andern verwarf. Damals fühlte er, daß sein Leben „stehenbleibe“, und damals begann er sich<br />

wieder und immer wieder zu beweisen, daß es einen Gott gebe. Wie aber beweisen? Nun, so:<br />

„Und wieder und immer wieder, von den verschiedensten Seiten her, kam ich zu derselben<br />

Einsicht, daß ich doch nicht ohne jeden Grund, ohne jede Ursache und Sinn auf diese Welt<br />

gekommen sein kann, daß ich nicht ein so aus dem Nest gefallener Vogel bin, als welcher ich<br />

mir vorgekommen bin. Angenommen, ich sei ein herausgefallener Nestling, liege auf dem<br />

Rücken und piepse im hohen Gras; ich piepse aber doch, weil ich weiß, daß mich eine Mutter<br />

ausgetragen, ausgebrütet, gewärmt, gefüttert und geliebt hat. Wo ist sie, diese Mutter? Wenn<br />

man mich verlassen hat, dann frage ich, wer hat mich von sich gestoßen? Ich kann vor mir<br />

nicht leugnen, daß mich jemand mit Liebe zur Welt gebracht hat. Wer ist aber dieser Jemand?<br />

– Wiederum: Gott!“ 1<br />

So überlegen alle religiösen Menschen, ganz gleich, ob sie an einen oder mehrere Götter glauben.<br />

Das Hauptmerkmal solcher Überlegungen besteht in ihrer völligen logischen Haltlosigkeit:<br />

sie setzten eben das voraus, was bewiesen werden soll – die Existenz eines Gottes. Hat man erst<br />

einmal die Existenz eines Gottes vorausgesetzt und ihn nach eigenem Ebenbild geschaffen,<br />

kann man ohne große Kraftanstrengung alle Erscheinungen der Natur und des gesellschaftlichen<br />

Lebens erklären. Bereits Spinoza hat sehr treffend gesagt, daß „die Menschen gemeiniglich<br />

annehmen, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selber, um eines Zweckes willen, und<br />

sogar als gewiß behaupten, daß Gott selbst alles auf einen bestimmten Zweck hinleite – sagen<br />

sie doch, Gott habe alles um des Menschen willen gemacht, den Menschen aber, damit dieser<br />

ihn verehre...“ 2 Das ist es ja gerade, was bei Tolstoi vorausgesetzt wird: die Teleologie (der<br />

Standpunkt der Zielstrebigkeit). Es wäre verlorene Liebesmüh, wollte man sich darüber auslassen,<br />

daß die Erklärungen, zu denen auf dem Standpunkt der Teleologie stehende Menschen<br />

gelangen, in Wirklichkeit nichts erklären und bei der leisesten Berührung mit einer ernsthaften<br />

Kritik gleich Kartenhäusern in sich zusammenfallen. Man muß aber bemerken, daß Tolstoi das<br />

[747] nicht verstehen konnte oder wollte. Das Leben schien ihm nur möglich, wenn er sich auf<br />

den Standpunkt der Teleologie stellte: „Sobald ich mir bewußt wurde“, sagt er, „daß eine Kraft<br />

existiert, in deren Gewalt ich mich befinde, fühlte ich sofort die Möglichkeit des Lebens.“ 3 Es<br />

ist verständlich, warum: der Sinn des Lebens wurde in diesem Falle durch den Willen des Wesens<br />

bestimmt, dessen Gewalt sich Tolstoi ausgeliefert hatte. Es blieb nur übrig, zu gehorchen<br />

und nicht zu grübeln. Tolstoi drückt das so aus:<br />

„Das Leben der Welt vollzieht sich nach jemandes Willen, jemand vollbringt mit diesem Leben<br />

der ganzen Welt und mit unserm Leben ein ihm eigentümliches Werk. Will man die<br />

Hoffnung haben, den Sinn dieses Willens zu begreifen, so muß man ihn vor allem erfüllen,<br />

das tun, was man von uns will. Und wenn ich nicht tue, was man von mir will, so werde ich<br />

auch nie begreifen, was man von mir will; und noch weniger, was man von uns allen und von<br />

der ganzen Welt verlangt.“ 4<br />

II<br />

Was verlangt aber von uns allen und von der ganzen Welt dieser „jemandes Wille“? Tolstoi<br />

antwortet: „Der Wille ... dessen, der uns gesandt, ist ein vernünftiges (rechtschaffenes) Leben<br />

der ganzen Welt. Folglich ist der Sinn des Lebens: – Wahrheit in die Welt zu tragen.“ 5 An-<br />

1 Ebenda, S. 47.<br />

2 Spinoza, „Ethica“, S. 44. [„Ethik“, Leipzig 1949, S. 40.]<br />

3 L. N. Tolstoi, „Beichte“, S. 47.<br />

4 Ebenda, S. 45.<br />

5 Ebenda, S. 47.<br />

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