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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

„leben“ könnten. Zum Glück kann davon gar keine Rede sein, unser Standpunkt ist das genaue<br />

Gegenteil des Tolstoischen.<br />

Tolstoi sagt von sich: „Ich bin eben zum Glauben gekommen, weil ich außer dem Glauben<br />

nichts, aber auch wirklich nichts habe, nichts fand, außer Verderben.“ 1<br />

Hier ist, wie Sie sehen, ein sehr gewichtiges Argument zu meinen Gunsten. Ein Mensch, der sich<br />

in die Stimmung Tolstois versetzte, würde riskieren, nichts als Verderben vorzufinden. Und das<br />

wäre in der Tat unheimlich. Freilich, Tolstoi hat sich vor dem Verderben durch den Glauben gerettet.<br />

Doch in welcher Lage befände sich der Mensch, der sich in die Stimmung Tolstois versetzt<br />

hat, aber von dessen Glauben unbefriedigt geblieben ist? Für diesen Menschen gäbe es nur einen<br />

Ausweg: das Verderben, an dem man, wie allen bekannt, keine „Freude“ haben kann.<br />

Auf welchem Wege ist Tolstoi zum Glauben gekommen? Nach seinen eigenen Worten ist<br />

er auf dem Wege des Gottsuchens zum Glauben gekommen. Dieses Gottsuchen war, wie er<br />

sagt, „nicht verstandesmäßig, sondern gefühlsmäßig, weil dieses Suchen nicht meinem Gedankengang<br />

entsprang – es war sogar sein Gegenteil –‚ sondern vom Herzen kam.“ 2 Tolstoi<br />

drückt sich jedoch ungenau aus. In Wirklichkeit schloß sein Gottsuchen verstandesmäßige<br />

Überlegungen keineswegs aus. Dies zeigt sich unter anderem in den folgenden Sätzen:<br />

„Ich besinne mich, es war im Vorfrühling, ich war allein im Walde und lauschte seinen Lauten.<br />

Ich lauschte und lauschte und dachte nur an das eine, wie überhaupt meine Gedanken in<br />

den letzten drei Jahren nur mit dem einen beschäftigt waren. Ich suchte wieder Gott.<br />

Gut, es gibt keinen Gott, sagte ich mir, der nicht meine Vorstellung, [744] sondern Wirklichkeit<br />

wäre, eine Wirklichkeit, wie mein ganzes Leben – einen solchen Gott gibt es nicht. Und<br />

nichts, auch keine Wunder können seine Existenz nachweisen, weil Wunder meine Vorstellung,<br />

noch dazu meine unvernünftige Vorstellung, sein werden.<br />

Doch meine Vorstellung von Gott, von dem, den ich suche? fragte ich mich. Diese Vorstellung,<br />

wo ist sie hergekommen? Und wieder durchströmten mich bei diesem Gedanken freudige<br />

Wellen des Lebens. Alles wurde rings um mich lebendig, erhielt Sinn. Aber meine Freude<br />

war nur kurz. Der Verstand arbeitete weiter. Die Vorstellung von Gott – ist nicht Gott,<br />

sagte ich mir. Eine Vorstellung ist das, was in mir vorgeht; die Vorstellung von Gott ist das,<br />

was ich in mir erzeugen kann, aber nicht erzeugen muß. Das ist es nicht, was ich suche. Ich<br />

suche nach dem, ohne das das Leben nicht sein kann. Und wieder erstarb alles rings um mich<br />

und in mir, und wieder hatte ich den Wunsch, mich selbst zu töten.“ 3<br />

Das ist der ganze Disput mit sich selbst. Nun, in dem Disput kann man aber Überlegungen<br />

nicht umgehen. Auch Tolstoi konnte sie dort nicht umgehen, wo für ihn der quälende Streit<br />

mit sich selbst eine günstige Wendung nahm:<br />

„Was bedeutet eigentlich dieses Stirb und Werde? Ich lebe doch nicht, wenn ich den Glauben<br />

an die Existenz Gottes verliere, ich würde mich doch schon längst getötet haben, wenn ich<br />

nicht einen leisen Hoffnungsschimmer besäße, ihn zu finden. Ich lebe doch, lebe nur dann<br />

wahrhaft, wenn ich ihn fühle und ihn suche. Warum suche ich denn dann noch? schrie in mir<br />

eine Stimme auf. – Das ist er also. Er ist das, ohne das man nicht leben kann. Gott kennen<br />

und leben ist ein und dasselbe. Gott ist Leben.“ 4<br />

Natürlich, nicht verstandesmäßige Überlegungen allein haben Tolstoi zum Glauben geführt.<br />

Seine logischen Operationen beruhten zweifellos auf einem starken und aufdringlichen Ge-<br />

1 L. N. Tolstoi, „Beichte“, Ausgabe Paramonow, S. 55.<br />

2 Ebenda, S. 46.<br />

3 Ebenda, S. 48.<br />

4 Ebenda.<br />

2

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