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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[742]<br />

Aufzeichnungen eines Publizisten „Bis dahin und nicht weiter“*<br />

I<br />

In Nr. 311 der „Kiewskaja Mysl“ 1* verkündete Herr Homunculus 2* , ganz Rußland sei in zwei<br />

Lager gespalten: „Die einen lieben Tolstoi einfach schlechthin, die anderen – bis dahin und<br />

nicht weiter.“ Herrn Homunculus zufolge verhält es sich so, daß alle mehr oder weniger fortschrittlich<br />

Gesinnten Tolstoi einfach schlechthin lieben, während die Ordnungshüter und Reaktionäre<br />

das nur „bis dahin und nicht weiter“ tun. Ich gehöre weder zu den Reaktionären<br />

noch zu den Ordnungshütern. Das wird mir Herr Homunculus hoffentlich glauben. Und dessenungeachtet<br />

kann auch ich nicht „Tolstoi einfach schlechthin lieben“; auch ich liebe ihn nur<br />

„bis dahin und nicht weiter“. Ich halte ihn für einen genialen Künstler und äußerst schwachen<br />

Denker. Mehr noch: ich bin der Meinung, daß die Behauptung, „mit Tolstoi ist das Leben<br />

eine wahre Freude, ohne Tolstoi wäre es unheimlich“, die Herr Wolodin 3* in derselben<br />

„Kiewskaja Mysl“ (Nr. 310) aufstellt, nur von einem völligen Nichtverstehen der Ansichten<br />

Tolstois zeugt. Meiner Ansicht nach ist das gerade Gegenteil der Fall: „mit Tolstoi zu leben“<br />

ist ebenso unheimlich wie z. B. mit Schopenhauer zu „leben“. Und wenn unsere heutige „Intelligenz“<br />

in ihrer „einfach schlechthinnigen“ Liebe zu Tolstoi das nicht merkt, dann scheint<br />

mir das ein sehr schlechtes Zeichen zu sein. Früher, sagen wir zur Zeit des verstorbenen N.<br />

Michailowski, liebten die fortschrittlichen Menschen Tolstoi auch nur „bis dahin und nicht<br />

weiter“. Und das war bei weitem besser!<br />

Ich weiß, nur die wenigsten werden mir jetzt beipflichten. Das macht nichts! Selbst wenn<br />

sich alle fortschrittlichen „Intellektuellen“ des heutigen Rußlands gegen mich aussprächen,<br />

ich könnte nicht anders denken. Mag man mich einen Ketzer <strong>nennen</strong>. Das tut nichts! Schon<br />

Lessing sagte einmal ganz richtig: „Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute<br />

Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen.“ Natürlich<br />

genügt es noch nicht, Ketzer zu sein, um klar zu sehen. Lessing hatte nicht minder<br />

recht, als er hinzufügte: „Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er<br />

selbst sehen wollen.“<br />

[743] Mit einem Ketzer kann man streiten und muß man zuweilen streiten. Das ist so! Tolstoi<br />

schadet es manchmal nicht, einen Ketzer anzuhören. Auch darüber besteht kein Zweifel.<br />

So schlage ich denn z. B. Herrn Wolodin vor, mit mir ein wenig zu streiten. Er sagt: „Mit<br />

Tolstoi ist es eine Freude.“ Und ich entgegne: „Nein, mit Tolstoi ist es unheimlich.“ Wer hat<br />

recht? Hierüber entscheide der Leser, dem ich meine Ansicht erläutern möchte.<br />

Wenn ich sage: „mit Tolstoi ist es unheimlich“, meine ich selbstverständlich den Denker<br />

Tolstoi, nicht aber den Künstler Tolstoi. Mit Tolstoi dem Künstler kann es auch unheimlich<br />

sein, nicht aber mir und überhaupt Menschen, die denken wie ich; uns ist es, im Gegenteil,<br />

mit ihm sehr „wohl“. Mit Tolstoi dem Denker ist es uns dagegen wirklich unheimlich. Das<br />

heißt, um es genauer zu sagen: es wäre uns unheimlich, wenn wir mit Tolstoi dem Denker<br />

* Anmerkungen zu: Aufzeichnungen eines Publizisten „Bis dahin und nicht weiter“ (S. 742-751)<br />

Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der legalen bolschewistischen Zeitung „Swesda“ (1910, Nr. 1 vom 16.<br />

Dezember). Hier wird der Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. XXIV, S. 185-194) gedruckt.<br />

1* Siehe „Kiewskaja Mysl“ vom 10. November 1910.<br />

2* In dem Artikel „Stück für Stück“ (Homunculus ist der Schriftstellername des Literaten und bekannten sowjetischen<br />

Journalisten und Mitarbeiters der „Prawda“, D. I. Saslawski).<br />

3* Wolodin ist das Pseudonym für W. I. Boschko, damals Student der Priesterakademie, später Professor der Universität<br />

Kiew. Plechanow spricht von seinem Artikel „Zur himmlischen Stadt“.<br />

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