18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

sem Gefühl gleichsam völlig unzugänglich ist. Hier tritt der Unterschied, nicht der historischen,<br />

sondern der sozialen Stellung in Erscheinung. Im neuen Europa waren die höheren<br />

Gesellschaftsklassen stets von einem viel größeren Individualismus durchdrungen als die<br />

unteren Gesellschaftsklassen. Und je tiefer der Individualismus in die Seele des Menschen<br />

eindringt, desto mehr festigt sich in ihr die Furcht vor dem Tode.<br />

[741] Tolstoi ist einer der genialsten und einer der extremsten Vertreter des Individualismus<br />

der neuen Zeit. Der Individualismus hat sowohl seinen künstlerischen Werken als auch im<br />

besonderen seinen publizistischen Ansichten seinen Stempel unauslöschlich aufgedrückt. Es<br />

nimmt nicht wunder, daß er auch in seinem Verhältnis zur Natur zum Ausdruck gekommen<br />

ist. So sehr Tolstoi die Natur auch geliebt hat, in den Beweisgründen Feuerbachs gegen den<br />

Gedanken an eine persönliche Unsterblichkeit hätte er nichts Überzeugendes finden können.<br />

Dieser Gedanke war für ihn eine psychologische Notwendigkeit. Und wenn in seiner Seele,<br />

neben dem Drang nach Unsterblichkeit, ein sozusagen heidnisches Bewußtsein seiner Einheit<br />

mit der Natur lebte, so hat dieses Bewußtsein nur dazu geführt, daß er im Gedanken an ein<br />

Fortleben im Jenseits nicht, wie die Urchristen, Trost finden konnte. Nein, eine solche Unsterblichkeit<br />

war ihm zuwenig verlockend. Er brauchte eine Unsterblichkeit, bei der der Gegensatz<br />

zwischen seinem persönlichen „Ich“ und dem schönen „Nicht-Ich“ der Natur ewig<br />

fortdauern sollte. Er brauchte eine Unsterblichkeit, bei der er nicht aufgehört hätte, jene<br />

flimmernde Luft um sich zu fühlen, die, „sich zusammenballend, in die unendliche Ferne<br />

zieht“ und die „das tiefe Blau des unendlich weiten Himmels macht“. Er brauchte eine Unsterblichkeit,<br />

bei der auch weiterhin „Myriaden von Insekten einen umschwirren und umtanzen,<br />

und die Marienkäferchen in Scharen umherkriechen und ringsum allerorts Vogelgesang<br />

erschallt“. Kurz gesagt, der christliche Glaube an die Unsterblichkeit der Seele konnte für ihn<br />

nichts Tröstliches haben: er brauchte die Unsterblichkeit des Leibes. Und die größte Tragödie<br />

seines Lebens war wohl die offensichtliche Wahrheit, daß es eine solche Unsterblichkeit<br />

nicht geben kann.<br />

Das soll natürlich kein Lob sein. Und es ist selbstverständlich auch kein Vorwurf. Es ist<br />

nichts weiter als der Hinweis auf eine Tatsache, die unbedingt zu berücksichtigen hat, wer die<br />

geistige Haltung des großen Schriftstellers Rußlands verstehen will.<br />

3

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!