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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

anmutige Weichheit auszeichnet. Und hier ist der Grund, warum unser Tolstoi die Natur um<br />

Clarens so liebte; darum hat sie seine Seele mit solcher Lebensfreude erfüllt. „Sogleich erwachte<br />

in mir das Gefühl der Liebe“, sagt er. „Ich fühlte sogar Liebe zu mir selbst, sehnte die<br />

Vergangenheit zurück, sah hoffnungsfroh in die Zukunft; es war für mich plötzlich eine<br />

Wonne zu leben, ich wollte recht, recht lange leben, und mit dem Gedanken an den Tod verband<br />

sich eine kindliche, poetische Angst.“<br />

Diese Angst vor dem Gedanken an den Tod ist für Tolstoi sehr charakteristisch.<br />

Bekanntlich spielte dieses Gefühl im Prozeß der Ausarbeitung jener Anschauungen eine sehr<br />

große Rolle, die in ihrer Gesamtheit das in der Umgangssprache sogenannte Tolstojanertum<br />

bilden. Ich will hier auf diese Rolle jedoch nicht näher eingehen. Mich beschäftigt hier nur<br />

der interessante Umstand, daß Tolstoi – wenigstens in einem bestimmten Abschnitt seines<br />

Lebens – gerade dann die stärkste Todesangst fühlte, wenn er sich an dem Gedanken, eins zu<br />

sein mit der Natur, am herzlichsten erfreute.<br />

Das ist durchaus nicht bei allen Menschen der Fall. Es gibt auch Menschen, die nichts besonders<br />

Schreckliches darin sehen, daß sie mit der Zeit völlig mit der Natur verschmelzen, ganz<br />

in ihr aufgehen müssen. Und je klarer sie unter diesem oder jenem Eindruck ihre Einheit mit<br />

der Natur [740] erkennen, desto mehr verliert der Gedanke an den Tod für sie seine Schrekken.<br />

Solch ein Mensch ist wohl Shelley gewesen, von dem die tief empfundenen dichterischen<br />

Worte stammen, die er beim Tode Keats’ gesagt hat: „Er ist eins geworden mit der<br />

Natur“ (He is made one with Nature). So einer war auch Ludwig Feuerbach, der in einem<br />

seiner Distichen gesagt hat:<br />

Fürcht’ dich nicht vor dem Tod. Du verbleibst ja stets in der Heimat,<br />

Auf dem vertrauten Grund, welcher dich liebend umfängt.<br />

Ich bin überzeugt, daß eine Natur wie die um Clarens in der Seele Feuerbachs besonders das<br />

Gefühl verstärkt hätte, das ihm dieses Distichon eingegeben hat. Anders war es, wie wir wissen,<br />

mit Tolstoi. Der Anblick der Schönheit der Natur um Clarens ließ ihn nur um so größere<br />

Angst vor dem Tode empfinden. Während er sich noch an dem Bewußtsein seiner Einheit mit<br />

der Natur erfreut, bebt er schon vor Angst bei dem Gedanken, daß eine Zeit kommen werde,<br />

wo der Gegensatz zwischen seinem „Ich“ und dem herrlichen „Nicht-Ich“ der ihn umgebenden<br />

Natur verschwinden werde. Feuerbach hat in seinen „Todesgedanken“ die Falschheit<br />

des Glaubens an eine persönliche Unsterblichkeit mit echt deutscher Gründlichkeit von vier<br />

verschiedenen Gesichtspunkten aus bewiesen. Tolstoi (siehe seine „Beichte“) war lange Zeit<br />

hindurch, wenn auch nicht immer, der Meinung, daß es nicht lohne zu leben, gäbe es keine<br />

Unsterblichkeit.<br />

Tolstoi empfand ganz anders als Feuerbach und Shelley. Das ist natürlich eine Sache des<br />

„Charakters“. Aber es ist bemerkenswert, daß sich die Menschen in verschiedenen historischen<br />

Epochen zum Todesgedanken verschieden verhalten haben. Der heilige Augustinus hat<br />

gesagt, bei den Römern sei der Ruhm ihrer Stadt an die Stelle der Unsterblichkeit getreten.<br />

Und auf diese Seite der Angelegenheit hat derselbe Feuerbach seine Leser aufmerksam gemacht,<br />

der gesagt hat, daß sich das Streben nach persönlicher Unsterblichkeit in den Vorstellungen<br />

der Europäer erst seit der Reformation festgesetzt habe, die der religiöse Ausdruck des<br />

der neuen Zeit eigenen Individualismus gewesen sei. Schließlich beweist Tolstoi in seiner<br />

berühmten Erzählung „Drei Tode“ 1* selbst die Richtigkeit dieses Gedankens auf eigene Art,<br />

d. h. mittels eindrucksvoller künstlerischer Bilder. Dort hat die im Sterben liegende Frau des<br />

Gutsherrn große Furcht vor dem Tode, während der unheilbar kranke Fuhrknecht Fedor die-<br />

1* Diese Erzählung wurde gedruckt in der Zeitschrift „Biblioteka dlja tschtenija“, 1859, Nr. 1.<br />

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