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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[738]<br />

Tolstoi und die Natur*<br />

Jeder, der Tolstois Werke gelesen hat, weiß, daß Tolstoi die Natur liebt und sie mit einer<br />

Meisterschaft darstellt, wie sie wahrscheinlich noch nie von jemand erreicht worden ist. Bei<br />

unserem großen Künstler wird die Natur nicht beschrieben, sondern sie lebt. Zuweilen erscheint<br />

sie sogar als gewissermaßen handelnde Person der Erzählung: denken Sie an die unvergleichliche<br />

Szene in dem Roman „Krieg und Frieden“ mit der Schlittenfahrt der Rostows<br />

am Weihnachtstag.<br />

Tolstoi ist überaus empfänglich für die Schönheit der Natur. In seinen Schweizer Reisenotizen,<br />

die von P. Birjukow 1 zitiert werden, finden sich folgende ausdrucksvolle Zeilen:<br />

„Ich lebte schon zwei Monate in Clarens, aber jedesmal, wenn ich morgens oder gar vor Einbruch<br />

der Nacht, nach dem Abendessen, die Läden des Fensters öffnete, auf denen schon der<br />

Schatten lag, und hinüber auf den See und die dahinter aufsteigenden und im Wasser sich<br />

spiegelnden blauen Berge blickte, war ich seltsamerweise wie geblendet von der Schönheit<br />

des Anblicks, der dann mit erstaunlicher Macht auf mich einwirkte... Manchmal, wenn ich<br />

allein in dem schattigen kleinen Garten saß und mich in den Anblick dieses Ufers und dieses<br />

Sees verlor, gewann ich förmlich den physischen Eindruck, daß diese Schönheit mir durch<br />

die Augen in die Seele drang.“<br />

Dieser so überaus feinfühlige Mensch, der die Schönheit der Natur „durch die Augen“ in seine<br />

Seele dringen fühlt, ist nun jedoch nicht von jeder schönen Landschaft entzückt. So<br />

schreibt er nach der Ersteigung eines der Berggipfel um Montreux (wenn ich nicht irre, war<br />

es der Rocher de Naye) folgende Notiz nieder: „Ich liebe diese sogenannten erhabenen und<br />

berühmten Ansichten nicht: sie haben so etwas Kaltes.“ Tolstoi liebt nur solche Ansichten der<br />

Natur, die in ihm das Bewußtsein seiner Einheit mit ihr erwecken. Er sagt das in den gleichen<br />

Reisenotizen selbst:<br />

„Ich liebe die Natur, wenn sie mich von allen Seiten umgibt und dabei [739] in die unendliche<br />

Weite verliert, aber ich muß mitten in ihr stehen. Ich liebe es, wenn mich von allen Seiten<br />

flimmernde Luft umgibt und diese Luft, sich zusammenballend, in die unendliche Ferne<br />

zieht; wenn die gleichen saftigen Grashalme, die ich niedersitzend zerdrückt habe, das endlose<br />

Grün der Wiesen bilden; wenn die Blätter, die, im Winde sich regend, Schatten über mein<br />

Gesicht laufen lassen, die Bläue des fernen Waldes bilden; wenn die Luft, die ich atme, das<br />

tiefe Blau des unendlich weiten Himmels macht; wenn man nicht allein ist mit seinem Jubel<br />

und seiner Freude ob der Natur und Myriaden von Insekten einen umschwirren und umtanzen,<br />

und die Marienkäferchen in Scharen umherkriechen und ringsum allerorts Vogelgesang<br />

erschallt.“ 2*<br />

Wer in Clarens gewesen ist, wird sich erinnern, daß der Ausblick auf den See und die Berge<br />

bei all seiner seltenen Schönheit nichts majestätisch Kaltes hat, sich vielmehr durch eine sehr<br />

* Anmerkungen zu: L. N. Tolstoi und die Natur (S. 738-741)<br />

Dieser Aufsatz wurde von Plechanow geschrieben für den nicht im Druck <strong>erschien</strong>enen Jubiläums-Sammelband<br />

des Komitees zur Feier des achtzigsten Geburtstages Tolstois (22. August 1908 a. St.). Zum erstenmal gedruckt<br />

wurde der Aufsatz in der Zeitschrift „Swesda“ (1924, Heft 4). Hier wird der Text der Gesamtausgabe der Werke<br />

(Bd. XXIV, S. 250-253) gedruckt.<br />

1 „Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Biographie“, Bd. I, S. 320 ff.<br />

2* Im Manuskript folgt nach diesen Worten ein Zitat aus L. Tolstoi, das G. W. Plechanow bei der Korrektur durchgestrichen<br />

hat: „Und da ist eine kahle, kalte, leere graue Fläche und irgendwo dort etwas Schönes, vom Dunst der<br />

Ferne leicht überzogen. Aber dieses Etwas ist so weit entfernt, daß ich dabei nicht das empfinde, was mir in der<br />

Natur den größten Genuß bereitet: daß ich mich nicht als Teil dieser ganzen endlos weiten und schönen Ferne<br />

fühle. Mich geht diese Ferne nichts an.“<br />

1

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