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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

In der Tat, geehrter Herr, Sie wollen, daß der Weg der Kultur auch durch andere „Faktoren“<br />

bestimmt werde. Ich möchte Sie fragen: Gehört die Kunst auch dazu? Sie werden antworten:<br />

Natürlich, ja! – und dann haben wir folgende Situation: der Entwicklungsweg der menschlichen<br />

Kultur wird unter anderem durch die Entwicklung der Kunst bestimmt, und die Entwicklung<br />

der Kunst wird bestimmt durch den Entwicklungsweg der menschlichen Kultur.<br />

Und dasselbe werden Sie von allen anderen „Faktoren“ sagen müssen: von der Ökonomik,<br />

vom Zivilrecht, von den politischen Einrichtungen, der Moral usw. Was ergibt sich nun? Es<br />

ergibt sich folgendes: der Entwicklungsweg der menschlichen Kultur wird bestimmt durch<br />

die Wirkung aller genannten Faktoren, und die Entwicklung aller genannten Faktoren wird<br />

bestimmt durch den Entwicklungsweg der Kultur. Das ist doch die alte Sünde wider die Logik,<br />

der sich einst unsere Urgroßväter so stark schuldig gemacht haben: Worauf steht die Erde?<br />

– Auf den Walfischen. – Und die Walfische? – Auf dem Wasser. – Und das Wasser? –<br />

Auf der Erde. – Und die Erde? – Auf den Walfischen, usw. in derselben wunderlichen Reihenfolge.<br />

Geben Sie zu, daß man bei der Untersuchung ernster Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

endlich strenger zu urteilen versuchen kann und muß!<br />

Ich bin fest überzeugt, daß die Kritik (genauer: die wissenschaftliche Theorie der Ästhetik)<br />

von nun an imstande sein wird, vorwärtszuschreiten, indem sie sich allein auf die materialistische<br />

Geschichtsauffassung stützt. Ich bin auch der Ansicht, daß die Kritik in ihrer vorangegangenen<br />

Entwicklung eine um so festere Grundlage erhielt, je mehr sich ihre Anhänger<br />

der von mir vertretenen historischen Ansicht näherten. Als Beispiel verweise ich Sie auf die<br />

Entwicklung der Kritik in Frankreich.<br />

Diese Entwicklung ist eng mit der Entwicklung der allgemeinen historischen Ideen verknüpft.<br />

Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben, wie ich schon sagte, die Geschichte vom idealistischen<br />

Standpunkt aus betrachtet. [72] Sie sahen in der Anhäufung und Verbreitung von Wissen<br />

die hinter allen anderen Ursachen liegende Hauptursache der historischen Bewegung der<br />

Menschheit. Nun, wenn der Fortschritt der Wissenschaft und die Entwicklung des menschlichen<br />

Denkens überhaupt wirklich die wichtigste und tiefste Ursache der geschichtlichen<br />

Entwicklung sind, taucht natürlicherweise die Frage auf: Was bedingt die Entwicklung des<br />

Denkens? Vom Standpunkt des 18. Jahrhunderts war darauf nur eine Antwort möglich: die<br />

Natur des Menschen, die immanenten Entwicklungsgesetze des Denkens. Wenn aber die Natur<br />

des Menschen die ganze Entwicklung seines Denkens bestimmt, so ist natürlich auch die<br />

Entwicklung der Literatur und der Kunst dadurch bedingt. Infolgedessen kann und muß die<br />

Natur des Menschen – und nur sie – uns den Schlüssel zum Verstehen der Entwicklung von<br />

Literatur und Kunst in der zivilisierten Welt liefern.<br />

Die Eigenschaften der menschlichen Natur haben zur Folge, daß der Mensch verschiedene<br />

Altersstufen durchläuft: Kindheit, Jugend, Reife usw. Literatur und Kunst durchlaufen in ihrer<br />

Entwicklung ebenfalls diese Altersstufen.<br />

„Welches Volk ist nicht anfänglich Poet gewesen, um als Philosoph zu enden?“ fragt Grimm<br />

in seiner „Correspondance littéraire“, und er wollte damit sagen, das Aufblühen der Poesie<br />

entspreche der Kindheit und Jugend der Völker und die Fortschritte der Philosophie dem reifen<br />

Alter.<br />

Diese Anschauung des 18. Jahrhunderts wurde vom 19. Jahrhundert übernommen. Wir begegnen<br />

ihr auch in Frau von Staëls berühmtem Buch „De la littérature dans ses rapports avec<br />

les institutions sociales“, worin sich gleichzeitig durchaus bemerkenswerte Ansätze einer<br />

ganz anderen Anschauung finden. „Untersucht man die drei verschiedenen Epochen der griechischen<br />

Literatur“, sagt Frau von Staël, „so bemerkt man sehr deutlich den natürlichen Ent-<br />

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