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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 [733] Ein symptomatischer Irrtum* In letzter Zeit sind in unseren führenden Kreisen viele Klagen über den allgemeinen Tiefstand der Grundeinstellung laut geworden. Und man muß gestehen, daß diese Klagen in den meisten Fällen durchaus berechtigt waren. Ein Tiefstand der Einstellung ist bei uns wirklich zu bemerken. Seine Symptome sind äußerst mannigfaltig und mitunter überraschend. Wohl das überraschendste und deutlichste Symptom des Tiefstandes unserer gesellschaftlichen Einstellung ist die Tatsache, daß der des Grafen L. N. Tolstoi Artikel „Du sollst nicht töten“ 1* von unseren oppositionellen Presseorganen veröffentlicht worden ist. Mich wundert freilich nicht, daß unsere oppositionellen Organe den Gedanken für richtig befunden haben, daß man niemand töten solle. Dieser Gedanke – der nach den Worten des Grafen L. N. Tolstoi eine Bekräftigung, meiner Ansicht nach aber nichts als eine bloße Wiederholung eines uralten „Gesetzes“ darstellt – ist an und für sich völlig richtig. Aber dieser an und für sich völlig richtige und uralte Gedanke ist bis auf den heutigen Tag noch allerorts weit von seiner Verwirklichung entfernt – besonders weit aber in Rußland, das, wie Graf L. N. Tolstoi so nachdrücklich sagt, „vor Entsetzen stöhnt angesichts der unaufhörlichen und an Zahl und Dreistigkeit immer weiter um sich greifenden Mordtaten“. Also handelt es sich bei dieser Frage nicht darum, ob dieser uralte Gedanke an und für sich richtig ist, sondern darum, wo die Hindernisse liegen, die seine Verwirklichung verhindern, und mit welchen Mitteln diese Hindernisse beseitigt werden können. Auf diese ganz natürliche und völlig unvermeidliche Frage gibt Graf L. N. Tolstoi eine Antwort, die unter anderem eine strikte Verurteilung unserer ganzen Freiheitsbewegung einschließt. Wer dem Grafen zustimmt, muß notwendigerweise – vorausgesetzt, daß er logisch denken und seiner Überzeugung entsprechend handeln kann, d. h., daß er ein vernünftiger und ehrlicher Mensch ist – zu einem Feind dieser Bewegung werden. Kein Feind à la Kruschewan. Nein! Unparteiisch, wie er ist, bedenkt der Graf auch Leute wie Kruschewan [734] mit einem nicht weniger strengen Tadel. Damit wird jedoch nichts gebessert. Denken Sie meinetwegen nur an folgende Zeilen aus dem Artikel „Du sollst nicht töten“: „... so daß sich die Mehrzahl der Menschen, die jetzt in Rußland unter dem Vorwand der widersprechendsten Erwägungen darüber, worin das Wohl der Gesellschaft besteht, öffentlich auftreten, im Grunde nur von ihren egoistischen, fast tierischen Instinkten leiten lassen“. In diesen Zeilen werden Leute wie Kruschewan mit den Teilnehmern der Freiheitsbewegung auf eine Stufe gestellt, wird unser ganzer Befreiungskampf – ein schwerer, schicksalhafter Kampf – zum Resultat „egoistischer, tierischer Instinkte“ gestempelt. Ein strengeres Urteil haben selbst die schlimmsten Feinde aus dem Lager der äußersten Rechten nicht über unsere Freiheitsbewegung gefällt. Im Gegenteil, die Leute dieses Lagers mußten, während sie das Auftreten der Teilnehmer der Freiheitbewegung streng verurteilten, die moralische Sauberkeit der Beweggründe, aus denen dieses Auftreten hervorgegangen war, wiederholt anerkennen. Graf L. N. Tolstoi ist hierin weiter gegangen als die Leute von der äußersten Rechten. Das wundert mich nun nicht. Ich glaube, ein anderes Verhalten zu unserer Freiheitsbewegung als das jetzige erlaubt ihm sein Standpunkt nicht. Und auf jeden Fall ist mir seine Einstellung durchaus nichts Neues: er hat sie bereits mehr als einmal ausgesprochen und unlängst erst in seiner Schrift „Göttliches und Menschliches“ auch sehr klar zum Ausdruck gebracht. Ich * Anmerkungen zu: Ein symptomatischer Irrtum (S. 733-737) Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der Zeitung „Towarischtsch“, 25. September und 5. Oktober 1907; hier wird der Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. XV, S. 349-353) gedruckt. 1* L. Tolstois Aufsatz „Du sollst nicht töten!“ wurde gedruckt in den liberalen Zeitungen „Russkije Wedomosti“ vom 8. September 1907; „Towarischtsch“ vom 8. September; „Retsch“ vom 8. September und anderen. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 weiß schon lange, daß Graf L. N. Tolstoi „Tolstojaner“ ist, und ich verstehe sehr wohl, daß jeder echte „Tolstojaner“ einer Bewegung feind sein muß wie der, die sich in unserem Lande jetzt vollzieht: jedes Sektierertum hat seine Logik. Und ich will hier das „Tolstojanertum“ durchaus nicht widerlegen; ich will nicht beweisen, daß seine Logik falsch ist. Wer von uns Anhängern der Freiheitsbewegung wüßte das nicht? Ich will nur meine Verwunderung ausdrücken, wie der Artikel des Grafen L. N. Tolstoi in den oppositionellen Zeitungen, und noch dazu ohne jeden Vorbehalt, erscheinen konnte. Es war wie im „Haferbrei“ von Shukowski: „Die Kinderchen haben gegessen, die Löffel abgewischt und: Danke schön! gesagt.“ Aber wahrhaftig, meine Herren, zu danken brauchte man dem Grafen nun wirklich nicht! Daß der Verfasser von „Krieg und Frieden“ ein großer Schriftsteller der russischen Erde ist, daß Rußland mit Recht auf ihn stolz ist und ihn lieben muß; daß für uns schon die Tatsache allein, daß es in unserem vielgeprüften Rußland solche Schriftsteller gibt, auch eine Garantie seiner besseren Zukunft ist – all das stimmt, all das ist wahr, all das ist unbestreitbar. Aber der große Schriftsteller Rußlands ist groß als Künstler [735] und durchaus nicht als Sektierer. Sein Sektierertum zeugt nicht von seiner Größe, sondern von seiner Schwäche, d. h. von der äußersten Beschränktheit seiner gesellschaftlichen Ansichten. Und je mehr wir den großen Künstler lieben und verehren, desto kränkender sind für uns seine sektiererischen Irrtümer. Und je kränkender für uns seine sektiererischen Irrtümer sind, desto weniger fühlen wir uns veranlaßt, sie mit jener ehrfurchtsvoll stummen Verbeugung zur Schau zu stellen, mit der unsere oppositionellen Presseorgane den Artikel „Du sollst nicht töten“ gebracht haben. Ich kann Sem und Japhet sehr gut verstehen, von denen es in der Bibel heißt: „Da nahmen [sie] ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rücklings hinzu und deckten ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, daß sie ihres Vaters Blöße nicht sahen.“ Aber ich könnte nur die Achseln zucken, müßte ich in der Bibel lesen, wie Sem und Japhet die Blöße ihres Vaters nicht nur nicht zudeckten, sondern ehrfürchtig Maßnahmen trafen, damit jeder und alle sie sehen könnten. Amour oblige. [Liebe verpflichtet] Man wird mir entgegenhalten: „Es war doch ein Jubiläum.“ Meine Antwort darauf ist: Was will das schon besagen? Stellen Sie sich vor, Belinski habe zum Tage irgendeines Gogol- Gedenktags die „Auswahl aus dem Briefwechsel mit Freunden“ zusammen mit der gütigen Erlaubnis seitens des Autors erhalten, diese im „Sowremennik“ drucken zu lassen. Würde der „ungestüme Wissarion“ von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch gemacht haben? Ich glaube nicht. Und hätte er schon davon Gebrauch gemacht, dann sicherlich nicht, um sich darauf zu beschränken, dieses Werk ehrfürchtig zu beschweigen. Und doch hat Belinski so für Gogol geschwärmt! Allein, während er Gogol liebte, wußte er, daß die Liebe Verpflichtungen auferlegt, und je größer seine Begeisterung für den Verfasser der „Toten Seelen“ war, desto größer war die Entrüstung, die ihn beim Erscheinen der „Auswahl“ packte. Und diese edle Entrüstung war so stark, daß keinerlei Erwägungen über irgendwelche Jubiläen sie hätten dämpfen können. Meinen denn die Redaktionen unserer oppositionellen Presseorgane, Belinski habe in diesem Fall unrichtig gehandelt und sich zu der „Auswahl“ so verhalten müssen, wie sie sich zu der Jubiläumsschrift des Grafen L. N. Tolstoi verhalten haben? Oder denken sie vielleicht, die Ansichten, die Gogol in seiner „Auswahl“ ausgesprochen hat, seien denen nicht ähnlich, unter deren Einfluß Graf L. N. Tolstoi jetzt über unsere Freiheitsbewegung hergefallen ist? Nun, das ist recht unwahrscheinlich, liegt es doch nur allzu deutlich auf der Hand, daß sowohl Gogol als auch Tolstoi, trotz beträchtlicher Unterschiede in den Einzelheiten ihrer Ansichten, im Grunde das Opfer ein [736] und derselben psychologischen Verirrung sind. Diese ihre gleiche psychologische Verirrung war der Grund der gleichen tiefen Tragik ihres Schicksals. Leidenschaftlich suchten sie den lebendigen Geist, fan- 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

weiß schon lange, daß Graf L. N. Tolstoi „Tolstojaner“ ist, und ich verstehe sehr wohl, daß<br />

jeder echte „Tolstojaner“ einer Bewegung feind sein muß wie der, die sich in unserem Lande<br />

jetzt vollzieht: jedes Sektierertum hat seine Logik. Und ich will hier das „Tolstojanertum“<br />

durchaus nicht widerlegen; ich will nicht beweisen, daß seine Logik falsch ist. Wer von uns<br />

Anhängern der Freiheitsbewegung wüßte das nicht?<br />

Ich will nur meine Verwunderung ausdrücken, wie der Artikel des Grafen L. N. Tolstoi in<br />

den oppositionellen Zeitungen, und noch dazu ohne jeden Vorbehalt, erscheinen konnte. Es<br />

war wie im „Haferbrei“ von Shukowski: „Die Kinderchen haben gegessen, die Löffel abgewischt<br />

und: Danke schön! gesagt.“ Aber wahrhaftig, meine Herren, zu danken brauchte man<br />

dem Grafen nun wirklich nicht!<br />

Daß der Verfasser von „Krieg und Frieden“ ein großer Schriftsteller der russischen Erde ist,<br />

daß Rußland mit Recht auf ihn stolz ist und ihn lieben muß; daß für uns schon die Tatsache<br />

allein, daß es in unserem vielgeprüften Rußland solche Schriftsteller gibt, auch eine Garantie<br />

seiner besseren Zukunft ist – all das stimmt, all das ist wahr, all das ist unbestreitbar. Aber<br />

der große Schriftsteller Rußlands ist groß als Künstler [735] und durchaus nicht als Sektierer.<br />

Sein Sektierertum zeugt nicht von seiner Größe, sondern von seiner Schwäche, d. h. von<br />

der äußersten Beschränktheit seiner gesellschaftlichen Ansichten. Und je mehr wir den großen<br />

Künstler lieben und verehren, desto kränkender sind für uns seine sektiererischen Irrtümer.<br />

Und je kränkender für uns seine sektiererischen Irrtümer sind, desto weniger fühlen wir<br />

uns veranlaßt, sie mit jener ehrfurchtsvoll stummen Verbeugung zur Schau zu stellen, mit der<br />

unsere oppositionellen Presseorgane den Artikel „Du sollst nicht töten“ gebracht haben.<br />

Ich kann Sem und Japhet sehr gut verstehen, von denen es in der Bibel heißt: „Da nahmen<br />

[sie] ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rücklings hinzu und deckten<br />

ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, daß sie ihres Vaters Blöße nicht<br />

sahen.“ Aber ich könnte nur die Achseln zucken, müßte ich in der Bibel lesen, wie Sem und<br />

Japhet die Blöße ihres Vaters nicht nur nicht zudeckten, sondern ehrfürchtig Maßnahmen<br />

trafen, damit jeder und alle sie sehen könnten. Amour oblige. [Liebe verpflichtet]<br />

Man wird mir entgegenhalten: „Es war doch ein Jubiläum.“ Meine Antwort darauf ist: Was<br />

will das schon besagen? Stellen Sie sich vor, Belinski habe zum Tage irgendeines Gogol-<br />

Gedenktags die „Auswahl aus dem Briefwechsel mit Freunden“ zusammen mit der gütigen<br />

Erlaubnis seitens des Autors erhalten, diese im „Sowremennik“ drucken zu lassen. Würde der<br />

„ungestüme Wissarion“ von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch gemacht haben? Ich glaube<br />

nicht. Und hätte er schon davon Gebrauch gemacht, dann sicherlich nicht, um sich darauf zu<br />

beschränken, dieses Werk ehrfürchtig zu beschweigen. Und doch hat Belinski so für Gogol<br />

geschwärmt! Allein, während er Gogol liebte, wußte er, daß die Liebe Verpflichtungen auferlegt,<br />

und je größer seine Begeisterung für den Verfasser der „Toten Seelen“ war, desto größer<br />

war die Entrüstung, die ihn beim Erscheinen der „Auswahl“ packte. Und diese edle Entrüstung<br />

war so stark, daß keinerlei Erwägungen über irgendwelche Jubiläen sie hätten dämpfen<br />

können. Meinen denn die Redaktionen unserer oppositionellen Presseorgane, Belinski habe in<br />

diesem Fall unrichtig gehandelt und sich zu der „Auswahl“ so verhalten müssen, wie sie sich<br />

zu der Jubiläumsschrift des Grafen L. N. Tolstoi verhalten haben?<br />

Oder denken sie vielleicht, die Ansichten, die Gogol in seiner „Auswahl“ ausgesprochen hat,<br />

seien denen nicht ähnlich, unter deren Einfluß Graf L. N. Tolstoi jetzt über unsere Freiheitsbewegung<br />

hergefallen ist? Nun, das ist recht unwahrscheinlich, liegt es doch nur allzu deutlich<br />

auf der Hand, daß sowohl Gogol als auch Tolstoi, trotz beträchtlicher Unterschiede in<br />

den Einzelheiten ihrer Ansichten, im Grunde das Opfer ein [736] und derselben psychologischen<br />

Verirrung sind. Diese ihre gleiche psychologische Verirrung war der Grund der gleichen<br />

tiefen Tragik ihres Schicksals. Leidenschaftlich suchten sie den lebendigen Geist, fan-<br />

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