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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 Ich weiß noch ganz genau, daß ich, vom Begräbnis zurückgekehrt, meine kurze Rede am Grabe Nekrassows niederschrieb. Daß sie irgendwo in der revolutionären Presse veröffentlicht wurde, bezweifle ich. Von einer Veröffentlichung in der legalen Presse konnte keine Rede sein. Ich hob die revolutionäre Bedeutung der Dichtung Nekrassows hervor. Ich wies darauf hin, in welch grellen Farben er die unglückliche Lage des von der Regierung geknechteten Volkes geschildert hat. Ich erwähnte auch, daß [731] Nekrassow zum erstenmal in der legalen russischen Presse ein Loblied auf die Dekabristen, diese Vorläufer der revolutionären Bewegung unserer Tage, gesungen hat... Das ist alles, was mir vom Inhalt meiner Rede noch in Erinnerung ist. Alles – mit Ausnahme einer Einzelheit, die zu erwähnen ich mich für verpflichtet halte. Ich begann meine Rede mit der Bemerkung, Nekrassow habe sich nicht mit einer Lobpreisung Terpsichores beschränkt, sondern in seine Dichtung staatsbürgerliche Motive eingeführt. Diese Anspielung war augenfällig. Auch ich, meinerseits, hatte Puschkin im Auge. Und es versteht sich von selbst, daß ich ihm ganz und gar unrecht tat: Puschkin hat nicht nur Terpsichore besungen, die er allerdings gelegentlich erwähnte. Aber so war unsere damalige Einstellung. Wir teilten alle mehr oder weniger die Ansicht Pissarews, der unseren großen Dichter in dem bekannten Artikel „Puschkin und Belinski“ „herunterputzte“. Ich habe diese Stelle aus meiner Rede hier angeführt, weil ich Buße tun wollte: besser spät als niemals. Indem ich meinen Fehler bereue, halte ich es für gerecht, wenn ich als mildernden Umstand die Tatsache anführe, daß ich damals durchaus nicht als einziger diesen Fehler begangen habe. Was auch immer der Inhalt meiner Rede gewesen sein mag, es ist eine Tatsache, daß ich eine Sprache redete, die vom Standpunkt der Polizei unstatthaft war. Das fühlte das Publikum, das beim Begräbnis zugegen war, sofort. Ich weiß nicht, warum die Polizei nicht versucht hat, mich zu verhaften. Sie hat sehr gut daran getan. Die in einem engen Ring um mich herumstehenden Leute der Gesellschaft „Land und Freiheit“ und die Rebellen aus Südrußland hätten die Gewalttat der Polizei mit einer gemeinsamen Salve aus ihren Revolvern beantwortet. Das war schon am Vorabend des Begräbnisses fest beschlossen worden... Nach mir sprach ein Arbeiter – zu meinem größten Bedauern fällt mir sein Name nicht ein – ein paar Worte; er sprach davon, daß über den Lebensweg des großen Volksfreundes kein Gras wachsen werde. So ehrten die damaligen Revolutionäre das Gedenken an ihren geliebten Dichter, indem sie sich an seinem Grabe versammelten. Ja, sie gaben sich damit nicht zufrieden. Immer und immer wieder wollten sie von ihm sprechen. Ganz von selbst, ohne Plan, ohne vorherige Absprache kamen viele von uns in einem Wirtshaus in der Nähe des Friedhofes zusammen. Dort wurde wieder über die revolutionäre Bedeutung Nekrassows gesprochen. Es trat ein Künstler der kaiserlichen Theater auf, der das Gedicht „Betrachtungen an der Paradetreppe“ sehr gefühlvoll vortrug. Er erntete stürmischen Beifall. Uns alle erfüllte eine mutige, kämpferische Stimmung. Jugend) ‚einstimmig, im Chore gerufen hättet: »Er stand über, über ihnen!«‘ Ich darf Herrn Skabitschewski versichern, daß man ihm falsch berichtet hat und daß ich mich ganz bestimmt erinnere (ich hoffe, daß ich mich nicht irre), daß zuerst nur ein einziger gerufen hat: ‚Über, über ihnen‘ und gleich darauf hinzugefügt hat, daß Puschkin und Lermontow ‚Byronisten‘ gewesen seien – ein Zusatz der viel mehr und natürlicher einer einzigen Stimme und Meinung eigen ist als allen in dem gleichen Augenblick, das heißt einem tausendstimmigen Chor, so daß diese Tatsache sicher viel mehr zugunsten meiner Darstellung spricht. Und dann, gleich nach dem ersten Ruf, riefen noch etliche, aber einen Chor von tausend Stimmen habe ich nicht gehört, ich wiederhole dies und hoffe, daß ich mich hierin nicht täusche.“ („Tagebuch eines Schriftstellers“ Dezember 1877, Kap. II, Sämtliche Werke Dostojewskis, Bd. XXI, St. Petersburg, Verlag „Prosweschtschenije“, 1911, S. 400/401.) 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 [732] „Was dann, wenn die Behörden das Wirtshaus mit Soldaten umstellen und alle verhaften ließen?“ bemerkte damals einer der vorsichtigeren „Verschwörer“. „Dann fiele doch fast der ganze Stab der russischen Revolution in ihre Hand.“ Das war richtig. Aber die Behörden dachten nicht daran, das Wirtshaus umstellen zu lassen, und wir sagten in unseren Gesprächen über Nekrassow alles, was wir auf dem Herzen hatten, und vergaßen ganz, welche Gefahr uns drohte. Sassodimski hatte trotz seiner seltsamen Logik recht: Nekrassow war uns sowohl teuer als auch sympathisch. 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

Ich weiß noch ganz genau, daß ich, vom Begräbnis zurückgekehrt, meine kurze Rede am<br />

Grabe Nekrassows niederschrieb. Daß sie irgendwo in der revolutionären Presse veröffentlicht<br />

wurde, bezweifle ich. Von einer Veröffentlichung in der legalen Presse konnte keine<br />

Rede sein. Ich hob die revolutionäre Bedeutung der Dichtung Nekrassows hervor. Ich wies<br />

darauf hin, in welch grellen Farben er die unglückliche Lage des von der Regierung geknechteten<br />

Volkes geschildert hat. Ich erwähnte auch, daß [731] Nekrassow zum erstenmal in der<br />

legalen russischen Presse ein Loblied auf die Dekabristen, diese Vorläufer der revolutionären<br />

Bewegung unserer Tage, gesungen hat...<br />

Das ist alles, was mir vom Inhalt meiner Rede noch in Erinnerung ist. Alles – mit Ausnahme<br />

einer Einzelheit, die zu erwähnen ich mich für verpflichtet halte.<br />

Ich begann meine Rede mit der Bemerkung, Nekrassow habe sich nicht mit einer Lobpreisung<br />

Terpsichores beschränkt, sondern in seine Dichtung staatsbürgerliche Motive eingeführt.<br />

Diese Anspielung war augenfällig. Auch ich, meinerseits, hatte Puschkin im Auge. Und<br />

es versteht sich von selbst, daß ich ihm ganz und gar unrecht tat: Puschkin hat nicht nur Terpsichore<br />

besungen, die er allerdings gelegentlich erwähnte. Aber so war unsere damalige Einstellung.<br />

Wir teilten alle mehr oder weniger die Ansicht Pissarews, der unseren großen Dichter<br />

in dem bekannten Artikel „Puschkin und Belinski“ „herunterputzte“.<br />

Ich habe diese Stelle aus meiner Rede hier angeführt, weil ich Buße tun wollte: besser spät<br />

als niemals. Indem ich meinen Fehler bereue, halte ich es für gerecht, wenn ich als mildernden<br />

Umstand die Tatsache anführe, daß ich damals durchaus nicht als einziger diesen Fehler<br />

begangen habe.<br />

Was auch immer der Inhalt meiner Rede gewesen sein mag, es ist eine Tatsache, daß ich eine<br />

Sprache redete, die vom Standpunkt der Polizei unstatthaft war. Das fühlte das Publikum, das<br />

beim Begräbnis zugegen war, sofort. Ich weiß nicht, warum die Polizei nicht versucht hat,<br />

mich zu verhaften. Sie hat sehr gut daran getan. Die in einem engen Ring um mich herumstehenden<br />

Leute der Gesellschaft „Land und Freiheit“ und die Rebellen aus Südrußland hätten<br />

die Gewalttat der Polizei mit einer gemeinsamen Salve aus ihren Revolvern beantwortet. Das<br />

war schon am Vorabend des Begräbnisses fest beschlossen worden...<br />

Nach mir sprach ein Arbeiter – zu meinem größten Bedauern fällt mir sein Name nicht ein –<br />

ein paar Worte; er sprach davon, daß über den Lebensweg des großen Volksfreundes kein<br />

Gras wachsen werde.<br />

So ehrten die damaligen Revolutionäre das Gedenken an ihren geliebten Dichter, indem sie<br />

sich an seinem Grabe versammelten. Ja, sie gaben sich damit nicht zufrieden. Immer und<br />

immer wieder wollten sie von ihm sprechen. Ganz von selbst, ohne Plan, ohne vorherige Absprache<br />

kamen viele von uns in einem Wirtshaus in der Nähe des Friedhofes zusammen. Dort<br />

wurde wieder über die revolutionäre Bedeutung Nekrassows gesprochen. Es trat ein Künstler<br />

der kaiserlichen Theater auf, der das Gedicht „Betrachtungen an der Paradetreppe“ sehr gefühlvoll<br />

vortrug. Er erntete stürmischen Beifall. Uns alle erfüllte eine mutige, kämpferische<br />

Stimmung.<br />

Jugend) ‚einstimmig, im Chore gerufen hättet: »Er stand über, über ihnen!«‘ Ich darf Herrn Skabitschewski versichern,<br />

daß man ihm falsch berichtet hat und daß ich mich ganz bestimmt erinnere (ich hoffe, daß ich mich nicht<br />

irre), daß zuerst nur ein einziger gerufen hat: ‚Über, über ihnen‘ und gleich darauf hinzugefügt hat, daß Puschkin<br />

und Lermontow ‚Byronisten‘ gewesen seien – ein Zusatz der viel mehr und natürlicher einer einzigen Stimme und<br />

Meinung eigen ist als allen in dem gleichen Augenblick, das heißt einem tausendstimmigen Chor, so daß diese<br />

Tatsache sicher viel mehr zugunsten meiner Darstellung spricht. Und dann, gleich nach dem ersten Ruf, riefen<br />

noch etliche, aber einen Chor von tausend Stimmen habe ich nicht gehört, ich wiederhole dies und hoffe, daß ich<br />

mich hierin nicht täusche.“ („Tagebuch eines Schriftstellers“ Dezember 1877, Kap. II, Sämtliche Werke Dostojewskis,<br />

Bd. XXI, St. Petersburg, Verlag „Prosweschtschenije“, 1911, S. 400/401.)<br />

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