18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

der Tat, das künstlerische Schaffen der zivilisierten Völker ist der Notwendigkeit nicht weniger<br />

unterworfen als das eines primitiven Volkes. Der Unterschied besteht nur darin, daß die<br />

unmittelbare Abhängigkeit der Kunst von der Technik und der Produktionsweise bei zivilisierten<br />

Völkern verschwindet. Ich weiß natürlich, daß das ein großer Unterschied ist. Ich<br />

weiß aber auch, daß er durch nichts anderes verursacht wird als namentlich durch die Entwicklung<br />

der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung<br />

zwischen den verschiedenen Klassen führt. Er widerlegt nicht die materialistische Auf-<br />

[70]fassung der Kunstgeschichte, sondern bringt, im Gegenteil, ein neues und überzeugendes<br />

Zeugnis zu ihren Gunsten.<br />

Ich will noch auf das „Gesetz der Symmetrie“ hinweisen. Seine Bedeutung ist groß und unzweifelhaft.<br />

Worin wurzelt es? Wahrscheinlich im Bau des eigenen, menschlichen Körpers<br />

genauso wie im Bau der tierischen Körper: unsymmetrisch ist nur der Körper der Krüppel<br />

und Mißgeburten, die bei einem physisch normalen Menschen stets einen unangenehmen<br />

Eindruck hervorrufen mußten. Die Fähigkeit, uns an der Symmetrie zu erfreuen, wird uns<br />

also auch von der Natur gegeben. Man weiß aber nicht, in welchem Maße sich diese Fähigkeit<br />

entwickelt hätte, wäre sie nicht durch die Lebensweise der primitiven Menschen selbst<br />

genährt und gekräftigt worden. Wir wissen, daß der primitive Mensch vorwiegend Jäger ist.<br />

Diese Lebensweise führt, wie uns schon bekannt, dazu, daß in seiner Ornamentik Motive<br />

vorherrschen, die der Tierwelt entlehnt sind. Und das veranlaßt den primitiven Künstler,<br />

schon von frühester Jugend an aufmerksam das Gesetz der Symmetrie zu beachten. 1<br />

Daß das dem Menschen eigene Gefühl der Symmetrie gerade durch diese Vorbilder entwikkelt<br />

wird, ist daraus zu ersehen, daß Wilde (und nicht nur Wilde) in ihrer Ornamentik mehr<br />

die horizontale als die vertikale Symmetrie schätzen. 2 Betrachten Sie die Gestalt des ersten<br />

besten Menschen oder Tieres (natürlich nicht einer Mißgeburt), und Sie sehen, daß ihm die<br />

Symmetrie der ersten Art eigen ist und nicht der zweiten. Außerdem muß man berücksichtigen,<br />

daß Werkzeug und Gerät eine symmetrische Form oft einfach ihres Charakters und ihrer<br />

Bestimmung wegen forderten. Wenn schließlich der australische Wilde, der seinen Schild<br />

verziert, nach der völlig richtigen Bemerkung Grosses, die Bedeutung der Symmetrie in demselben<br />

Maße anerkennt, wie sie auch die hochzivilisierten Erbauer des Parthenons anerkannten,<br />

so ist damit klar, daß das Gefühl der Symmetrie an und für sich in der Geschichte der<br />

Kunst so gut wie nichts erklärt und daß man in diesem Falle, wie in allen ande-[71]ren, sagen<br />

muß: Die Natur gibt dem Menschen die Fähigkeit, aber die Übung und praktische Anwendung<br />

dieser Fähigkeit wird durch den Gang der Entwicklung seiner Kultur bestimmt.<br />

Ich gebrauche hier absichtlich wieder den unbestimmten Ausdruck Kultur. Nun Sie ihn gelesen<br />

haben, werden Sie leidenschaftlich ausrufen: „Ja, wer hat denn das je bestritten? Wir sagen<br />

doch nur, daß die Entwicklung der Kultur nicht allein durch die Entwicklung der Produktivkräfte<br />

und nicht nur durch die Ökonomik bedingt wird!“<br />

O weh! Solche Einwände kenne ich nur zu gut. Und ich gestehe, ich konnte nie verstehen,<br />

daß sogar gescheite Leute den furchtbaren logischen Schnitzer nicht bemerkten, der ihnen<br />

zugrunde lag.<br />

1 Ich sage: von frühester Jugend an, weil die Spiele der Kinder bei primitiven Völkern zugleich als Schule dienen,<br />

in der ihre künstlerischen Talente ausgebildet werden. So nach den Worten des Missionars Christol („Au<br />

sud de l’Afrique“, p. 95 ff.), der sagt, daß sich die Kinder des Basutostammes aus Ton Spielzeuge, Stiere, Pferde<br />

usw., anfertigen. Natürlich läßt diese Skulptur der Kinder viel zu wünschen übrig, aber zivilisierte Kinder könnten<br />

es in dieser Beziehung trotzdem nicht mit den kleinen afrikanischen „Wilden“ aufnehmen. In der Urgesellschaft<br />

sind die Spiele der Kinder mit den produktiven Beschäftigungen der Erwachsenen aufs engste verknüpft.<br />

Dieser Umstand wirft ein helles Licht auf die Frage der Beziehung des „Spiels“ zum gesellschaftlichen Leben,<br />

die ich in einem der folgenden Briefe behandeln werde.<br />

2 Siehe die Zeichnung der australischen Schilde bei Grosse „[Die] Anfänge der Kunst“, S. 145.<br />

21

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!