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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 Nicht ist mehr, Freund, zu verwinden, Die Not, die die Völker bedrückt: Menschen von edlem Empfinden Hat stets nur Gedeihen beglückt... Und genauso dachte die ganze opferbereite „Intelligenz“, die sich schon seit dem Ende der fünfziger Jahre fragte: „was tun“, um das Volk aus seiner schweren Lage zu befreien?, und für die diese verfluchte Frage bis jetzt die brennendste und die „verfluchteste“ aller Fragen bleibt. Im Hinblick darauf wird es völlig verständlich, weshalb diese Intelligenz die Verse Nekrassows nicht nur mit solchem Eifer und mit solcher Begeisterung las, sondern sein Talent sogar über das Puschkins und Lermontows stellte: er brachte ihre eigenen gesellschaftlichen Bestrebungen dichterisch zum Ausdruck; seine „Muse der Rache und des Leids“ war ihre eigene Muse. [714] In seinem Vorwort zur russischen Übersetzung des Romans „Der Büttnerbauer“ von Wilhelm von Polenz äußert Graf L. Tolstoi sein Bedauern darüber, daß der Geschmack und gesunde Sinn des russischen Leserpublikums in den letzten fünfzig Jahren stark gesunken sei. „Man kann diese Lage in allen Zweigen der Literatur verfolgen“, sagt er, „aber ich will nur auf einige besonders auffallende und mir bekannte Beispiele hinweisen. In der russischen Dichtkunst geht der dichterische Ruhm zum Beispiel nach Puschkin und Lermontow (Tjutschew wird gewöhnlich vergessen) auf die sehr zweifelhaften Dichter Maikow, Polonski, Feth, dann auf den dichterisch gänzlich unbegabten Nekrassow, dann auf Alexej Tolstoi mit seiner gekünstelten und prosaischen Dichtkunst über, dann auf den einförmigen und schwachen Nadson, dann auf den völlig unbegabten Apuchtin, und dann geht bereits alles wirr durcheinander, und es erscheinen unzählige Dichterlinge, die nicht einmal wissen, was Dichtkunst ist und was das, was sie schreiben, bedeutet, und weshalb sie schreiben.“ Ich will nicht auf alle Ungenauigkeiten hinweisen, die in diesem Auszug enthalten sind. Graf L. Tolstoi ist hier, wie in allen seinen Urteilen, allzu geradlinig und abstrakt. Seine Worte interessieren mich indes jetzt insofern, als sie Nekrassow betreffen. Und in dieser Hinsicht sind sie sehr lehrreich. Zu sagen, Nekrassow sei dichterisch gänzlich unbegabt, heißt einen Gedanken aussprechen, der ganz offenbar falsch ist. Obwohl fast jede Dichtung Nekrassows im ganzen – worauf ich bereits hingewiesen habe – mehr oder weniger erhebliche Verstöße gegen die Forderungen des strengen ästhetischen Geschmacks aufweist, kann man doch dafür in vielen von ihnen Stellen finden, in denen ein unzweifelhaftes Talent deutlich ausgeprägt ist. 1 Aber Graf L. Tolstoi schenkt diesen Stellen keine Beachtung, weil ihm die ganze Stimmung der Nekrassowschen Muse völlig fremd ist. Seine eigene geistige und moralische Entwicklung verlief in einer Richtung, die mit jener nichts gemein hatte, in der sich die geistige und moralische Entwicklung des russischen gebildeten Rasnotschinzen bewegte. L. Tolstoi ist ein adliger Herr durch und durch selbst da, wo er als Revolutionär erscheint. In seiner negativen Einstellung ist nicht ein Atom von Bestrebungen zu finden, die auf Neuerungen abzielen. Denken Sie an das Nekrassowsche „Lied“ aus der „Bärenjagd“: Laß mich, Mütterlein, doch ziehen, Laß mich ziehn und schilt nicht mehr! Soll ich hier wie Gras vergehen? Ich bin doch ein Kind vom Meer. Boote kann ich nicht ertragen, Große Schiffe habe ich im Sinn. 1 Es finden sich bei ihm übrigens auch ganz tadellose Sachen, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, sein berühmtes Gedicht „Onkel Wlas“. 9

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 [714] Ach, wie schleicht in leeren Tagen Unser Dasein jämmerlich dahin. Gitter hindern mich am Sehen Und ein Schlaf, der mich gefangenhält... Laß mich, Mütterlein, doch gehen In die große weite Welt... Denken Sie an dieses Gedicht und sagen Sie: Würde wohl eines der auch heute bei uns noch so zahlreichen jungen Mädchen, die es drängt, in die weite Welt zu ziehen – irgendwohin „zum Studium“, nach Petersburg, nach Moskau, ins Ausland –‚ und die auf den liebevollen, zärtlichen, darum aber um so schwerer zu überwindenden Widerstand von seiten ihrer Mütter, Väter oder überhaupt ihnen nahestehender Personen stoßen – würde auch nur eines erklären wollen, daß diesem Gedicht die dichterische Inspiration fehle? Es ist schwer, diesen Personen weh zu tun, die Trennung von ihnen fällt schwer, aber das dumpfe Leben zu Hause wird immer unerträglicher, und immer erhabener und verlockender werden die Bilder jener „Schiffe“, die auf dem „weiten freien Meer“ des bewußten Lebens dahinziehen und von denen jugendliche Phantasie „träumt“. Und da beginnt nun das junge Mädchen seinen Angehörigen zu versichern, daß es nur auf einem dieser „Schiffe“ geistige Befriedigung finden könne und daß es keinen Sinn habe, wenn seine Lieben ihm Vorhaltungen machen – und was es da so sagt, das kleidet Nekrassow in dichterische Form: „Laß mich, Mütterlein, doch ziehen!“ Wie soll es nicht entzückt sein von diesem Gedicht? Und wie soll es den Dichter selbst nicht liebgewinnen? Und bei Nekrassow finden sich viele Gedichte, in denen die Gefühle der jungen Rasnotschinzen in ebenso wohlgelungener Form zum Ausdruck gebracht wurden. Und deshalb könnten die jungen Rasnotschinzen einfach einen Menschen nicht verstehen, der auf die Idee käme, ihnen beweisen zu wollen, Nekrassow sei kein Dichter! „Überlassen Sie es uns, darüber zu urteilen“‚ würden sie zu einem solchen Menschen sagen, und sie hätten vollkommen recht. Zum Beweis, daß Nekrassow mit seinen Dichtungen die fortschritt-[716]lichen Bestrebungen der fortschrittlichen Jugend seiner Zeit geweckt und zum Ausdruck gebracht hat, will ich eine Erinnerung aus meinem persönlichen Leben erzählen. Ich war damals in der letzten Klasse der Kadettenanstalt. Nach dem Essen saßen wir in einer Gruppe von einigen Leuten zusammen und lasen Nekrassow. Kaum hatten wir das Gedicht „Die Eisenbahn“ gelesen, da ertönte das Glockenzeichen, das uns zu den militärischen Übungen rief. Wir steckten das Buch weg und holten, noch ganz unter dem Eindruck alles dessen, was wir soeben gelesen hatten, im Zeughaus unsere Gewehre. Als wir antraten, kam mein Freund S. zu mir heran und flüsterte, den Gewehrlauf fest umschließend: „Ach, ich möchte dieses Gewehr nehmen und für das russische Volk kämpfen!“ Diese Worte, die er flüsternd sagte, während die strengen militärischen Vorgesetzten nur ein paar Schritte weit weg waren, haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben; ich mußte später immer daran denken, sooft ich das Gedicht „Die Eisenbahn“ las. Im Dienst am Volke sieht Nekrassow die Hauptaufgabe des Staatsbürgers. Deshalb wird das Volk zum ersten Helden seiner Hauptwerke. Indes, was erfahren wir von ihm über diesen seinen Helden? Uns ist schon bekannt, daß seine Lage äußerst schwierig ist. Aber das genügt uns nicht. Wir möchten wissen, was er selbst zur Erleichterung seines Loses tut. Hierüber erfahren wir von Nekrassow sehr wenig Erfreuliches. Sein Volk versteht nicht zu kämpfen und erkennt die Notwendigkeit des Kampfes nicht. Das Hauptmerkmal dieses Volkes ist das ewige Dulden. So schreibt Nekrassow im Jahre 1858 zum Beispiel: 10

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

[714]<br />

Ach, wie schleicht in leeren Tagen<br />

Unser Dasein jämmerlich dahin.<br />

Gitter hindern mich am Sehen<br />

Und ein Schlaf, der mich gefangenhält...<br />

Laß mich, Mütterlein, doch gehen<br />

In die große weite Welt...<br />

Denken Sie an dieses Gedicht und sagen Sie: Würde wohl eines der auch heute bei uns noch<br />

so zahlreichen jungen Mädchen, die es drängt, in die weite Welt zu ziehen – irgendwohin<br />

„zum Studium“, nach Petersburg, nach Moskau, ins Ausland –‚ und die auf den liebevollen,<br />

zärtlichen, darum aber um so schwerer zu überwindenden Widerstand von seiten ihrer Mütter,<br />

Väter oder überhaupt ihnen nahestehender Personen stoßen – würde auch nur eines erklären<br />

wollen, daß diesem Gedicht die dichterische Inspiration fehle? Es ist schwer, diesen Personen<br />

weh zu tun, die Trennung von ihnen fällt schwer, aber das dumpfe Leben zu Hause<br />

wird immer unerträglicher, und immer erhabener und verlockender werden die Bilder jener<br />

„Schiffe“, die auf dem „weiten freien Meer“ des bewußten Lebens dahinziehen und von denen<br />

jugendliche Phantasie „träumt“. Und da beginnt nun das junge Mädchen seinen Angehörigen<br />

zu versichern, daß es nur auf einem dieser „Schiffe“ geistige Befriedigung finden könne<br />

und daß es keinen Sinn habe, wenn seine Lieben ihm Vorhaltungen machen – und was es da<br />

so sagt, das kleidet Nekrassow in dichterische Form: „Laß mich, Mütterlein, doch ziehen!“<br />

Wie soll es nicht entzückt sein von diesem Gedicht? Und wie soll es den Dichter selbst nicht<br />

liebgewinnen? Und bei Nekrassow finden sich viele Gedichte, in denen die Gefühle der jungen<br />

Rasnotschinzen in ebenso wohlgelungener Form zum Ausdruck gebracht wurden. Und<br />

deshalb könnten die jungen Rasnotschinzen einfach einen Menschen nicht verstehen, der auf<br />

die Idee käme, ihnen beweisen zu wollen, Nekrassow sei kein Dichter! „Überlassen Sie es<br />

uns, darüber zu urteilen“‚ würden sie zu einem solchen Menschen sagen, und sie hätten vollkommen<br />

recht.<br />

Zum Beweis, daß Nekrassow mit seinen Dichtungen die fortschritt-[716]lichen Bestrebungen<br />

der fortschrittlichen Jugend seiner Zeit geweckt und zum Ausdruck gebracht hat, will ich eine<br />

Erinnerung aus meinem persönlichen Leben erzählen.<br />

Ich war damals in der letzten Klasse der Kadettenanstalt. Nach dem Essen saßen wir in einer<br />

Gruppe von einigen Leuten zusammen und lasen Nekrassow. Kaum hatten wir das Gedicht<br />

„Die Eisenbahn“ gelesen, da ertönte das Glockenzeichen, das uns zu den militärischen Übungen<br />

rief. Wir steckten das Buch weg und holten, noch ganz unter dem Eindruck alles dessen,<br />

was wir soeben gelesen hatten, im Zeughaus unsere Gewehre. Als wir antraten, kam mein<br />

Freund S. zu mir heran und flüsterte, den Gewehrlauf fest umschließend: „Ach, ich möchte<br />

dieses Gewehr nehmen und für das russische Volk kämpfen!“ Diese Worte, die er flüsternd<br />

sagte, während die strengen militärischen Vorgesetzten nur ein paar Schritte weit weg waren,<br />

haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben; ich mußte später immer daran denken, sooft<br />

ich das Gedicht „Die Eisenbahn“ las.<br />

Im Dienst am Volke sieht Nekrassow die Hauptaufgabe des Staatsbürgers. Deshalb wird das<br />

Volk zum ersten Helden seiner Hauptwerke. Indes, was erfahren wir von ihm über diesen<br />

seinen Helden? Uns ist schon bekannt, daß seine Lage äußerst schwierig ist. Aber das genügt<br />

uns nicht. Wir möchten wissen, was er selbst zur Erleichterung seines Loses tut.<br />

Hierüber erfahren wir von Nekrassow sehr wenig Erfreuliches. Sein Volk versteht nicht zu<br />

kämpfen und erkennt die Notwendigkeit des Kampfes nicht. Das Hauptmerkmal dieses Volkes<br />

ist das ewige Dulden. So schreibt Nekrassow im Jahre 1858 zum Beispiel:<br />

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