erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 besonders ankommt – keine genügende Plastizität besaß 1 . Ich wiederhole: das Beil ist ein sehr nützliches Werkzeug, aber eine mit dem Beil verrichtete Arbeit läßt eben viel zu wünschen übrig. Aber an dem Nutzen, den das „rohe“ Talent Nekrassows unserem gesellschaftlichen Selbstbewußtsein gebracht hat, ist jetzt nicht mehr zu zweifeln, und es hat fast keinen Zweck, sich eingehender darüber zu äußern. Nekrassow war als Dichter der Repräsentant einer ganzen Epoche unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Epoche wird eingeleitet durch das Auftreten des gebildeten „Rasnotschinzen“ (d. h. der „Intelligenz“) auf dem Schauplatz unserer Geschichte und abgeschlossen durch das Erscheinen der Arbeiterklasse, des Proletariats im wahren Sinne des Wortes Wer sich für den moralischen oder ideellen Gehalt dieser bemerkenswerten Epoche interessiert, wird in der Dichtkunst Nekrassows überaus reichlichen Stoff zu ihrer Charakterisierung finden. Die Dichtkunst und die ganze schöne Literatur der vorangegangenen gesellschaftlichen Epoche war bei uns vornehmlich die Dichtkunst des Hochadels. Ich sage: „vornehmlich“, denn es hat glänzende Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel gegeben; ich brauche nur Kolzow zu nennen. Aber diese Ausnahmen waren eben nur Ausnahmen und bestätigten die allgemeine Regel. Wer ist Eugen Onegin? Ein gebildeter russischer Adliger im „Childe-[704]Harolds-Mantel“. Wer ist Petschorin? Ebenfalls ein gebildeter Adliger im gleichen Mantel, der nur anders geschnitten ist. Und wer sind die Helden der verschiedenen „Adelsnester“ Turgenews? Wer sind die Personen in „Krieg und Frieden“ oder in „Anna Karenina“, wer sind alle diese Kurakins, Bolkonskis, Besuchows, Rostows, Wronskis, Oblonskis, Lewins usw. usw.? Sie alle gehören samt und sonders unserem Adelsstande an. In den Werken Tolstois kommt das „Volk“ nur nebenbei und nur in dem Maße vor, wie es der Künstler braucht, um den Seelenzustand des adligen Helden darzustellen: denken Sie beispielsweise an den Soldaten Platon Karatajew, der das erregte Gemüt des Grafen Pjotr Besuchow besänftigt. Turgenew gewährt dem Volk – dem Bauern – in seinen „Aufzeichnungen eines Jägers“ bereits einen viel breiteren Raum. Obgleich die „Aufzeichnungen eines Jägers“ eine ziemlich große und begünstigende Rolle in der geistigen Entwicklung unserer „Gesellschaft“ gespielt haben, ist dieses Werk jedoch nicht charakteristisch für das Talent Turgenews und bestimmt auch nicht den Inhalt seines künstlerischen Schaffens. Die „Aufzeichnungen eines Jägers“ haben Turgenew nicht gehindert, ein Schriftsteller zu bleiben, der das Leben der „Adelsnester“ beschreibt und das Seelenleben ihrer Bewohner schildert, wie es Puschkin, Lermontow, Tolstoi und so viele, viele andere Sterne geringerer Größe auch getan haben. Wenn ich sie alle Schilderer des Lebens der Adelsnester nenne, wenn ich auf ihren Adelsstandpunkt hinweise, so will ich damit ganz und gar nicht sagen, sie seien beschränkte Anhänger der Standesprivilegien gewesen und hätten die Ausbeutung des Bauern durch den Adligen herzlos verteidigt. Durchaus nicht! Diese Männer waren auf ihre Art sehr gut und human, und die Knechtung der Bauern durch den Adel wurde – wenigstens manchmal – von einigen unter ihnen scharf verurteilt. Darauf kommt es aber gar nicht an. So gut und human diese unsere großen Künstler gewesen sein mögen, zweifellos stellt sich das Adelsleben 1 Unter „tendenziös“ versteht man meistens die Entstellung der Wirklichkeit zugunsten einer vorgefaßten Idee. In diesem Sinne war die Dichtkunst Nekrassows durchaus nicht tendenziös (abgesehen von einigen „falschen Tönen“, die seiner Muse durch die drückenden politischen Verhältnisse Rußlands entlockt wurden und denen er sich mitunter mehr überließ, als selbst vom Standpunkt des friedlichen Bürgers aus erlaubt war). Manchmal wird aber als tendenziös angesehen, was eigentlich aus der mangelhaften Gestaltungskraft der dichterischen Begabung zu erklären ist. Wenn einer die dichterische Form nicht zu meistern versteht, dann dringt in seine Dichtung die Prosa ein. Das ist ein großer Mangel. Er rührt jedoch häufig nicht von dem Wunsche her, die Wirklichkeit falsch darzustellen, und überdies führt er durchaus nicht zu einer Entstellung der Wirklichkeit: Prosa bedeutet nicht Lüge; die Prosadarstellung kann völlig richtig sein. 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 bei ihnen nicht von seiner negativen Seite her dar, d. h. von jener Seite, wo sich der Gegensatz der Adelsinteressen und der Bauerninteressen offenbarte, sondern von der, wo dieser Gegensatz gar nicht sichtbar ist und wo der Adlige, der von der mehr oder weniger rohen Ausbeutung des Bauern lebte, immerhin als ein Mensch erscheint, der viele der wichtigsten menschlichen Gefühle zu verstehen und zu erleben fähig ist: das Streben nach Wahrheit, das Suchen nach ernster gesellschaftlicher Betätigung, Kampfeslust, Liebe zum Weib, Freude an der Natur usw. usw. Insoweit die Bewohner der „Adelsnester“ fähig waren, diese Gefühle zu empfinden, haben sie den Künstler interessiert, aber das Verhältnis dieser Menschen zu dem ihnen untergeordneten Stande überging das Kunstwerk entweder gänzlich – wir wissen beispielsweise nichts über das Verhältnis Petschorins zu einen [705] Bauern –‚ oder stellte es nur mit ein paar Strichen dar: Onegin ersetzt das „Joch der alten Fron“ auf seinem Gut durch eine leichte Abgabenpflicht; Pjotr Besuchow baut seinen leibeigenen Bauern Schulen und Krankenhäuser; Andrej Bolkonski macht einige von ihnen zu freien Ackerbauern; – schließlich wird es an manchen Stellen in fast idyllischer Form geschildert. Ich möchte an die Weihnachtsbelustigungen auf dem Rjasaner Landgut der Grafen Rostow, Otradnoje, erinnern: die leibeigenen Dienstboten nehmen in gleicher Weise wie ihre Herrschaften an diesen Belustigungen teil, die mit so unnachahmlicher, unvergleichlicher Kunst geschildert werden. Mit seiner Schilderung des Idylls von Otradnoje wollte Tolstoi nun durchaus nicht irgend etwas verheimlichen oder beschönigen: an die Leibeigenen von Otradnoje dachte er überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Darstellung der Liebe Nikolai Rostows zu Sofja, und die Beteiligung der Leibeigenen an den Weihnachtsbelustigungen erwähnt er nur so ganz nebenbei und einfach deshalb, weil sie in der Darstellung nicht zu umgehen war: die Schilderung wäre sonst nicht lebenswahr gewesen. Wenn aber die von ihm geschilderten Szenen aus dem Leben ein richtiges Idyll sind, so ist das weder die Schuld noch auch das Verdienst des Künstlers. Was sollte er denn tun, wenn solche idyllischen Szenen trotz aller Schrecken der Leibeigenschaft stattfanden? Natürlich war Tolstoi das Vorhandensein dieser Schrecken wohlbekannt. Aber es bestand für ihn nicht die geringste Notwendigkeit, sie zu beschreiben, da seine Helden nicht Leibeigene waren, sondern wohlerzogene, auf ihre Art gute Aristokraten, die zu den genannten Schrecken überhaupt nicht in unmittelbarer Beziehung standen. Wir wissen, wie es in der Zeit der Leibeigenschaft bei uns zuging, und indem wir aus unserer eigenen Phantasie ergänzen, was der Künstler nicht gesagt hat, dürfen wir, nicht ohne Grund, annehmen, daß dieser oder jener der Leibeigenen von Otradnoje, die sich in der Weihnachtswoche zusammen mit den jungen Herrschaften belustigt hatten, sehr bald hernach einer schimpflichen Züchtigung im Pferdestall unterworfen wurde. Aber die Züchtigung vollzogen nicht die jungen Herrschaften, nicht Sonja, nicht Natascha, nicht Nikolai und selbst nicht der alte Graf Rostow. Die Züchtigungen auf Otradnoje lagen in der Hand des Verwalters Mitenka. Also brauchte Tolstoi überhaupt nicht von den Züchtigungen zu reden; bei ihm war eben nur von den Herrschaften die Rede: von Natascha, Sonja, Nikolai, dem alten Grafen usw. In den Adelsromanen, selbst wenn sie aus vielen Bänden bestanden, war wenig Raum für die Darstellung der Leiden des Volkes. 1 1 Hier eine interessante Einzelheit. Als Fürst Andrej Bolkonski am Tage vor der Schlacht bei Schöngraben die russischen Stellungen besichtigte, kam er gerade dazu, [706] als ein Soldat gezüchtigt wurde. Einer der anwesenden Offiziere, über diese Szene offenbar empört, sah den Fürsten fragend an, aber „... Fürst Andrej, in der vordersten Linie angekommen, ritt die Front ab“ und kümmerte sich nicht im geringsten um die Qual des Soldaten. Ganz gleichgültig dagegen ist auch Graf Tolstoi, der sich auf die unerwartete Bemerkung beschränkt, der Gezüchtigte habe nur zum Schein so geschrien. Warum nur zum Schein – das bleibt sein Geheimnis. Tolstoi sagt irgendwo (ich glaube, in seiner „Beichte“), daß für ihn während des größten Teils seines Lebens nur die sogenannten wohlerzogenen Menschen im wahren Sinne des Wortes Menschen gewesen seien, alle übrigen aber „keine eigentlichen“ Menschen... Das ist ein interessantes Geständnis; seine Richtigkeit wird verbürgt durch alle bedeutenderen Werke Tolstois. Und die Geistesverfassung des Künstler-Aristokraten wird grell beleuchtet. 4

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bei ihnen nicht von seiner negativen Seite her dar, d. h. von jener Seite, wo sich der Gegensatz<br />

der Adelsinteressen und der Bauerninteressen offenbarte, sondern von der, wo dieser Gegensatz<br />

gar nicht sichtbar ist und wo der Adlige, der von der mehr oder weniger rohen Ausbeutung des<br />

Bauern lebte, immerhin als ein Mensch erscheint, der viele der wichtigsten menschlichen Gefühle<br />

zu verstehen und zu erleben fähig ist: das Streben nach Wahrheit, das Suchen nach ernster<br />

gesellschaftlicher Betätigung, Kampfeslust, Liebe zum Weib, Freude an der Natur usw. usw.<br />

Insoweit die Bewohner der „Adelsnester“ fähig waren, diese Gefühle zu empfinden, haben sie<br />

den Künstler interessiert, aber das Verhältnis dieser Menschen zu dem ihnen untergeordneten<br />

Stande überging das Kunstwerk entweder gänzlich – wir wissen beispielsweise nichts über das<br />

Verhältnis Petschorins zu einen [705] Bauern –‚ oder stellte es nur mit ein paar Strichen dar:<br />

Onegin ersetzt das „Joch der alten Fron“ auf seinem Gut durch eine leichte Abgabenpflicht;<br />

Pjotr Besuchow baut seinen leibeigenen Bauern Schulen und Krankenhäuser; Andrej Bolkonski<br />

macht einige von ihnen zu freien Ackerbauern; – schließlich wird es an manchen Stellen in fast<br />

idyllischer Form geschildert. Ich möchte an die Weihnachtsbelustigungen auf dem Rjasaner<br />

Landgut der Grafen Rostow, Otradnoje, erinnern: die leibeigenen Dienstboten nehmen in gleicher<br />

Weise wie ihre Herrschaften an diesen Belustigungen teil, die mit so unnachahmlicher,<br />

unvergleichlicher Kunst geschildert werden. Mit seiner Schilderung des Idylls von Otradnoje<br />

wollte Tolstoi nun durchaus nicht irgend etwas verheimlichen oder beschönigen: an die Leibeigenen<br />

von Otradnoje dachte er überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf<br />

die Darstellung der Liebe Nikolai Rostows zu Sofja, und die Beteiligung der Leibeigenen an<br />

den Weihnachtsbelustigungen erwähnt er nur so ganz nebenbei und einfach deshalb, weil sie in<br />

der Darstellung nicht zu umgehen war: die Schilderung wäre sonst nicht lebenswahr gewesen.<br />

Wenn aber die von ihm geschilderten Szenen aus dem Leben ein richtiges Idyll sind, so ist das<br />

weder die Schuld noch auch das Verdienst des Künstlers. Was sollte er denn tun, wenn solche<br />

idyllischen Szenen trotz aller Schrecken der Leibeigenschaft stattfanden? Natürlich war Tolstoi<br />

das Vorhandensein dieser Schrecken wohlbekannt. Aber es bestand für ihn nicht die geringste<br />

Notwendigkeit, sie zu beschreiben, da seine Helden nicht Leibeigene waren, sondern wohlerzogene,<br />

auf ihre Art gute Aristokraten, die zu den genannten Schrecken überhaupt nicht in unmittelbarer<br />

Beziehung standen.<br />

Wir wissen, wie es in der Zeit der Leibeigenschaft bei uns zuging, und indem wir aus unserer<br />

eigenen Phantasie ergänzen, was der Künstler nicht gesagt hat, dürfen wir, nicht ohne Grund,<br />

annehmen, daß dieser oder jener der Leibeigenen von Otradnoje, die sich in der Weihnachtswoche<br />

zusammen mit den jungen Herrschaften belustigt hatten, sehr bald hernach einer<br />

schimpflichen Züchtigung im Pferdestall unterworfen wurde. Aber die Züchtigung vollzogen<br />

nicht die jungen Herrschaften, nicht Sonja, nicht Natascha, nicht Nikolai und selbst nicht der<br />

alte Graf Rostow. Die Züchtigungen auf Otradnoje lagen in der Hand des Verwalters Mitenka.<br />

Also brauchte Tolstoi überhaupt nicht von den Züchtigungen zu reden; bei ihm war eben<br />

nur von den Herrschaften die Rede: von Natascha, Sonja, Nikolai, dem alten Grafen usw. In<br />

den Adelsromanen, selbst wenn sie aus vielen Bänden bestanden, war wenig Raum für die<br />

Darstellung der Leiden des Volkes. 1<br />

1 Hier eine interessante Einzelheit. Als Fürst Andrej Bolkonski am Tage vor der Schlacht bei Schöngraben die<br />

russischen Stellungen besichtigte, kam er gerade dazu, [706] als ein Soldat gezüchtigt wurde. Einer der anwesenden<br />

Offiziere, über diese Szene offenbar empört, sah den Fürsten fragend an, aber „... Fürst Andrej, in der vordersten<br />

Linie angekommen, ritt die Front ab“ und kümmerte sich nicht im geringsten um die Qual des Soldaten. Ganz<br />

gleichgültig dagegen ist auch Graf Tolstoi, der sich auf die unerwartete Bemerkung beschränkt, der Gezüchtigte<br />

habe nur zum Schein so geschrien. Warum nur zum Schein – das bleibt sein Geheimnis.<br />

Tolstoi sagt irgendwo (ich glaube, in seiner „Beichte“), daß für ihn während des größten Teils seines Lebens nur<br />

die sogenannten wohlerzogenen Menschen im wahren Sinne des Wortes Menschen gewesen seien, alle übrigen<br />

aber „keine eigentlichen“ Menschen... Das ist ein interessantes Geständnis; seine Richtigkeit wird verbürgt durch<br />

alle bedeutenderen Werke Tolstois. Und die Geistesverfassung des Künstler-Aristokraten wird grell beleuchtet.<br />

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