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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 Werke des Herrn Bystrenin herausgegriffen. In der Erzählung „Er hat es erreicht“ ist es noch schlimmer. Da wird uns ein Kulak vorgeführt, der, man weiß nicht aus welchem Grunde, plötzlich fühlt, daß es so „nicht weitergeht“, und beschloß, durch sein plötzliches anständiges Leben jene Bauern für sich zu gewinnen, die er vorher mit Geld gewonnen hatte. Die Bauern verhalten sich seiner sittlichen Renaissance gegenüber äußerst skeptisch: „Ja, das sollen wir glauben“, sagen sie, „der meint wohl, er hat Dumme gefunden, der Teufel, der gräßliche! Der Halsabschneider!“ Wir verstehen diesen Skeptizismus. Wir glauben auch nicht daran, wir sind selbst auch der Meinung, daß die plötzliche sittliche Wandlung, die sich in dem Helden der Erzählung „Er hat es erreicht“ vollzogen hat, durchaus nicht echt ist. Herr Bystrenin versichert, daß sein Held „nichts anderes ist als einer der Märtyrer des Zwiespalts, der infolge der allgemeinen Entwicklung des Lebens auch in jenes Milieu hineingetragen worden ist, das mit Recht finsteres Reich genannt wird“ (S. 277). Schon möglich: aber wir können durchaus nicht einsehen, was dieser Zwiespalt mit der seelischen Verfassung seines Helden zu tun hatte, und daher macht die ganze Erzählung auf uns den sehr unangenehmen Eindruck des Unechten und Unnatürlichen. Unter anderen Voraussetzungen wäre sie sehr interessant gewesen, weil „die allgemeine Entwicklung des Lebens“, indem sie unsere alten ökonomischen Einrichtungen zerbricht, in der Tat auch die bisher so festen Anschauungen der Menschen zerbricht; weil durch sie ein Zustand der Unruhe und des Zwiespalts entsteht, wo das Leben bisher glatt und in gottseliger Ruhe dahingeflossen war. Bei Herrn Bystrenin findet sich eine „Studie aus dem Bauernleben“ unter dem Titel „Der gefangene Dieb“. Die Bauern haben einen Pferdedieb ergriffen, der sich in einer finsteren Herbstnacht in den Hof eines Bauern eingeschlichen hatte. Nachdem sie ihm die Hände gebunden haben, besprechen sie, was sie mit ihm machen könnten. Nach alter Gepflogenheit müßte man ihn als Schwerverbrecher „totschlagen“. Das möchten die „wirtschaftlichen“, wohlhabenden Bauern auch tun. Aber die armen Bauern sind damit nicht einverstanden. „Das darf man nicht tun!“ schreit Jefim Borona, der wohl eine zerrissene Joppe oder eine Weiberjacke trägt. „Warum ist Paschka ein Dieb? Das muß man richtig verstehen! ... Er hat eine kranke Frau und drei kleine Kinder, und wie steht’s mit seinem Bodenanteil? Warum hat man ihm im [698] Sommer, als man das Land verteilt hat, anderthalb Teile weggenommen? Nun, wenn du so gescheit bist, erkläre mir den Grund. Ja, so ist’s! Paschka haben sie es weggenommen, und dir, Demjanytsch,“ (derselbe Bauer, auf dessen Hof man Paschka erwischt hatte) „haben sie diese Anteile dazugegeben, weil du die Alten bewirtet hast“, usw. (S. 158). Nach heftigen gegenseitigen Beschimpfungen und endlosen gegenseitigen Beschuldigungen läßt man den Dieb heil und ungeschoren laufen, und wie er über Hals und Kopf davonrennt, sagt der zerlumpte Borona, der für ihn eingetreten war, herzlich lachend: „Ach, pressiert’s dem aber! Der hat sich gefreut, hat gar nicht Zeit gehabt, die Tür zuzumachen... Ach du meine Güte! ... Jetzt, mein’ ich, können wir heimgehen“ (S. 166). Sie werden zugeben, daß dies eine sehr interessante moralische Erscheinung ist, die in unserem bäuerlichen Milieu infolge der „allgemeinen Entwicklung des Lebens“, der sogenannten Umschichtung der bäuerlichen Bevölkerung nach den verschiedenen Graden der Wohlhabenheit, Eingang gefunden hat. Hätte Paschka nur „wirtschaftlichen“ Bauern gegenübergestanden, es wäre ihm schlecht ergangen. Das Mitgefühl der armen Bauern, die daran denken mußten, wie sehr sie alle unter den „guten“ Hofbesitzern zu leiden hatten, war seine Rettung. Sie beginnen zu begreifen, warum Paschka zum Dieb wurde, und anstelle eines unmenschlichen Urteils kommt es zu einer humanen Lösung – das ist bereits ein sehr heller Lichtstrahl im schrecklichen finsteren Reich, in dem die Bauern bisher gelebt hatten. Wenn sich unsere Belletristen, die das Volksleben schildern, von den volkstümlerischen Vorurteilen völlig frei machen könnten, hätten sie sicherlich viele ähnliche Erscheinungen gesehen, die allmählich in der seelischen Einstellung unserer werktätigen Masse einen völligen Umschwung herbeiführen werden. Leider betrachten diese Belletristen das Schauspiel des Todes immer noch lieber als das der Geburt, schildern sie den Untergang des Alten lieber als 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 das Aufkommen des Neuen; ihr Blick haftet an der Vergangenheit, und der Zukunft wenden sie hartnäckig den Rücken zu. Die Studie „Der gefangene Dieb“ ist bestimmt das Beste aller „Studien“, „Entwürfe“, „Skizzen“ usw. des Herrn Bystrenin, obwohl auch sie nicht ganz frei ist von den Mängeln, die diesen Skizzen anhaften. Herr Bystrenin würde gut daran tun, möglichst oft zu derartigen Studien zu greifen. Das wäre seinem Talent tausendmal nützlicher als die literarischen Exerzitien in der Art der „Fantasie Es-moll“. In dieser „Fantasie“ ist schon allzuviel von jener Phantasie, die nahe ans Teuflische grenzt und sogar sehr talentierte Schriftsteller zu nichts Gutem geführt hat. Gar davon zu schweigen, daß sich das Element der Nachahmung dort sehr stark bemerkbar macht. [699] Das sagen wir nun durchaus nicht deshalb, weil uns etwa eine „unbekannte Kraft“ veranlaßt, Herrn Bystrenin schlechtzumachen. Wir wünschen ihm aufrichtig und von ganzem Herzen für die Zukunft alles Gute. Sein Talent ist mittelmäßig, aber erstens ist bei uns auch die Zahl der mittelmäßigen Talente nicht eben groß; zweitens kann und muß auch ein mittelmäßiges Talent sich vervollkommnen; drittens kann man dem Leserpublikum auch mit einem mittelmäßigen Talent, besonders wenn man es in vernünftiger Weise gebraucht, sehr viel Nutzen bringen; man muß nur guten Willen haben und den richtigen Weg finden können. Anmerkungen Geschichten aus dem Leben Die Rezension des Buches „Geschichten aus dem Leben“ (Moskau 1895) von W. Bystrenin wurde erstmals gedruckt im Maiheft der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ (1897, Nr. 8). Die Redaktion des „Literarischen Nachlasses“ hat, nachdem sie die Autorschaft Plechanows auf Grund des im Plechanow-Archiv erhaltenen Manuskripts dieser Rezension festgestellt hatte, ihren Text im ersten Band des „Literaturnoje Nasledstwo“ (Verlag „Shurgas“, Moskau 1931, S. 49-53) veröffentlicht und dann nochmals gedruckt in der Sammlung „G. W. Plechanow als Literaturkritiker“ (1933, S. 39-45). Hier drucken wir den Text aus letztgenanntem Sammelband. W. P. Bystrenin war ein Epigone der Volkstümlerrichtung. Die künstlerisch nicht wertvollen und nicht lebenswahren Erzählungen W. Bystrenins hatten jedoch in den neunziger Jahren einen ziemlich weiten Leserkreis. 4

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Werke des Herrn Bystrenin herausgegriffen. In der Erzählung „Er hat es erreicht“ ist es noch<br />

schlimmer. Da wird uns ein Kulak vorgeführt, der, man weiß nicht aus welchem Grunde,<br />

plötzlich fühlt, daß es so „nicht weitergeht“, und beschloß, durch sein plötzliches anständiges<br />

Leben jene Bauern für sich zu gewinnen, die er vorher mit Geld gewonnen hatte. Die Bauern<br />

verhalten sich seiner sittlichen Renaissance gegenüber äußerst skeptisch: „Ja, das sollen wir<br />

glauben“, sagen sie, „der meint wohl, er hat Dumme gefunden, der Teufel, der gräßliche! Der<br />

Halsabschneider!“ Wir verstehen diesen Skeptizismus. Wir glauben auch nicht daran, wir<br />

sind selbst auch der Meinung, daß die plötzliche sittliche Wandlung, die sich in dem Helden<br />

der Erzählung „Er hat es erreicht“ vollzogen hat, durchaus nicht echt ist. Herr Bystrenin versichert,<br />

daß sein Held „nichts anderes ist als einer der Märtyrer des Zwiespalts, der infolge<br />

der allgemeinen Entwicklung des Lebens auch in jenes Milieu hineingetragen worden ist, das<br />

mit Recht finsteres Reich genannt wird“ (S. 277). Schon möglich: aber wir können durchaus<br />

nicht einsehen, was dieser Zwiespalt mit der seelischen Verfassung seines Helden zu tun hatte,<br />

und daher macht die ganze Erzählung auf uns den sehr unangenehmen Eindruck des Unechten<br />

und Unnatürlichen. Unter anderen Voraussetzungen wäre sie sehr interessant gewesen,<br />

weil „die allgemeine Entwicklung des Lebens“, indem sie unsere alten ökonomischen Einrichtungen<br />

zerbricht, in der Tat auch die bisher so festen Anschauungen der Menschen zerbricht;<br />

weil durch sie ein Zustand der Unruhe und des Zwiespalts entsteht, wo das Leben bisher<br />

glatt und in gottseliger Ruhe dahingeflossen war. Bei Herrn Bystrenin findet sich eine<br />

„Studie aus dem Bauernleben“ unter dem Titel „Der gefangene Dieb“. Die Bauern haben<br />

einen Pferdedieb ergriffen, der sich in einer finsteren Herbstnacht in den Hof eines Bauern<br />

eingeschlichen hatte. Nachdem sie ihm die Hände gebunden haben, besprechen sie, was sie<br />

mit ihm machen könnten. Nach alter Gepflogenheit müßte man ihn als Schwerverbrecher<br />

„totschlagen“. Das möchten die „wirtschaftlichen“, wohlhabenden Bauern auch tun. Aber die<br />

armen Bauern sind damit nicht einverstanden. „Das darf man nicht tun!“ schreit Jefim Borona,<br />

der wohl eine zerrissene Joppe oder eine Weiberjacke trägt. „Warum ist Paschka ein<br />

Dieb? Das muß man richtig verstehen! ... Er hat eine kranke Frau und drei kleine Kinder, und<br />

wie steht’s mit seinem Bodenanteil? Warum hat man ihm im [698] Sommer, als man das<br />

Land verteilt hat, anderthalb Teile weggenommen? Nun, wenn du so gescheit bist, erkläre mir<br />

den Grund. Ja, so ist’s! Paschka haben sie es weggenommen, und dir, Demjanytsch,“ (derselbe<br />

Bauer, auf dessen Hof man Paschka erwischt hatte) „haben sie diese Anteile dazugegeben,<br />

weil du die Alten bewirtet hast“, usw. (S. 158). Nach heftigen gegenseitigen Beschimpfungen<br />

und endlosen gegenseitigen Beschuldigungen läßt man den Dieb heil und ungeschoren laufen,<br />

und wie er über Hals und Kopf davonrennt, sagt der zerlumpte Borona, der für ihn eingetreten<br />

war, herzlich lachend: „Ach, pressiert’s dem aber! Der hat sich gefreut, hat gar nicht<br />

Zeit gehabt, die Tür zuzumachen... Ach du meine Güte! ... Jetzt, mein’ ich, können wir heimgehen“<br />

(S. 166). Sie werden zugeben, daß dies eine sehr interessante moralische Erscheinung<br />

ist, die in unserem bäuerlichen Milieu infolge der „allgemeinen Entwicklung des Lebens“,<br />

der sogenannten Umschichtung der bäuerlichen Bevölkerung nach den verschiedenen Graden<br />

der Wohlhabenheit, Eingang gefunden hat. Hätte Paschka nur „wirtschaftlichen“ Bauern<br />

gegenübergestanden, es wäre ihm schlecht ergangen. Das Mitgefühl der armen Bauern, die<br />

daran denken mußten, wie sehr sie alle unter den „guten“ Hofbesitzern zu leiden hatten, war<br />

seine Rettung. Sie beginnen zu begreifen, warum Paschka zum Dieb wurde, und anstelle eines<br />

unmenschlichen Urteils kommt es zu einer humanen Lösung – das ist bereits ein sehr<br />

heller Lichtstrahl im schrecklichen finsteren Reich, in dem die Bauern bisher gelebt hatten.<br />

Wenn sich unsere Belletristen, die das Volksleben schildern, von den volkstümlerischen Vorurteilen<br />

völlig frei machen könnten, hätten sie sicherlich viele ähnliche Erscheinungen gesehen,<br />

die allmählich in der seelischen Einstellung unserer werktätigen Masse einen völligen<br />

Umschwung herbeiführen werden. Leider betrachten diese Belletristen das Schauspiel des<br />

Todes immer noch lieber als das der Geburt, schildern sie den Untergang des Alten lieber als<br />

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