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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

verhältnisse schließlich gezwungen hatten, ihr Kind wie einen jungen Hund auszusetzen, daß<br />

eine solche Frau schon vor der Geburt des Kindes schwere seelische Erschütterungen durchgemacht,<br />

unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Was aber einfach nicht zu verstehen ist:<br />

warum mußten diese ihre schweren seelischen Erschütterungen im Charakter ihres Kindes als<br />

„Schläue“ und „Anpassungsfähigkeit“ in Erscheinung treten? Alles läßt deutlich erkennen,<br />

daß Herr Bystrenin eine „Vererbung“ aus dem einfachen‚ aber bedauerlichen Grunde zu Hilfe<br />

gezogen hat, weil ihm der Charakter seines Helden selbst unwahrscheinlich <strong>erschien</strong>. Und<br />

dabei hat Waskas Charakter durchaus nichts Unwahrscheinliches. Waskas Charakterzeichnung<br />

ist einfach unzulänglich, und darum wirkt er in seinem Auftreten nur zur Hälfte lebenswahr,<br />

zur anderen Hälfte bleibt er ein seelenloser Gegenstand der Erörterung über ein bestimmtes<br />

psychologisches Thema. An Unvollendetheit leiden entschieden alle Helden des<br />

Herrn Bystrenin. So ermangeln ihre Handlungen gänzlich der inneren Notwendigkeit. In der<br />

Skizze „Schicksal“ zum Beispiel erzählt der Arbeiter Gordej Iwanytsch, wie er sich in ein<br />

Mädchen verliebte, das vorher einen lasterhaften Lebens-[696]wandel geführt hatte, aber sehr<br />

darunter litt und gar einen Selbstmordversuch machte. Liest man diese Erzählung, so kommt<br />

einem nun zwar nicht der Gedanke, daß Gordej Iwanytsch lüge – man glaubt ihm, weil man<br />

keine Veranlassung hat, ihm nicht zu glauben; und trotzdem ist man nicht so. recht überzeugt,<br />

ob es wirklich so gewesen sei. Der Eindruck, den man von der Erzählung Gordej Iwanytschs<br />

gewinnt, bleibt schwach und unbestimmt.<br />

Einen ähnlich unbestimmten Eindruck macht auch die Skizze „Heilige Nacht“, wenn sie auch<br />

etwas besser geschrieben ist. Am Vorabend des Osterfestes kehrt dem Dorfschullehrer Matwej<br />

Nikolajewitsch seine Frau zurück, die vor etlichen Jahren mit dem Stationsvorsteher des<br />

benachbarten Bahnhofs durchgebrannt war. Bei ihrem Erscheinen hebt in ihm ein qualvoller<br />

Kampf widerstreitender Gefühle an. Einerseits wallt in ihm die Erbitterung des Menschen<br />

auf, der, allein gelassen, so viel Leid ertragen hat und überdies fest davon überzeugt ist, daß<br />

die Untreue der Frau den „guten Namen“ des Mannes befleckt. Er will sie davonjagen und<br />

„ihr ein Schimpfwort nachrufen, das sie verdient (!) hat“. Anderseits muß er mit ihr auch<br />

wieder Mitleid haben: sie sieht heruntergekommen und unglücklich aus. Matwej Nikolajewitsch<br />

geht fort, um zu überlegen, was er tun solle, und der Weg führt ihn zum Grabe seines<br />

Kindes, das schon im ersten Jahre seiner Ehe auf die Welt gekommen, aber bald darauf gestorben<br />

war. Dort findet er das Taschentuch seiner Frau, die das ihnen beiden teure Grab offenbar<br />

schon vor ihm aufgesucht hatte. Dieser unerwartete Umstand löst in seinem Kopf zunächst<br />

noch größeren Wirrwarr widerstreitender Gedanken aus als vorher das Erscheinen der<br />

Frau. In diesem Augenblick beginnt die Glocke zu läuten, die alle Gläubigen zur feierlichen<br />

Oster-Frühmesse ruft, und in das gerührte Herz Matwej Nikolajewitschs kehrt Friede ein und<br />

bei den Menschen Wohlgefallen: er eilt hin, seiner Frau den Osterkuß zu geben – „von unbekannter<br />

Kraft getrieben“. Und das ist natürlich sehr schön. Wenn Herr Bystrenin das so berichtet,<br />

freut man sich von Herzen sowohl für den guten, wenn auch geistig nicht hochstehenden<br />

Schullehrer als auch für seine arme Jelena Iwanowna. Aber weder die „heilige Nacht“<br />

noch das Kindergrab oder das nasse Taschentuch, ja, nicht einmal die traurige Gestalt der<br />

abgehärmten Jeleria Iwanowna können einen so recht überzeugen, daß sich Matwej Nikolajewitsch<br />

unbedingt mit ihr aussöhnen mußte. Hätte Herr Bystrenin gesagt, sein Held sei vor<br />

Wut außer sich geraten, als er sich überzeugte, daß die Frau, die „Schimpfnamen verdient“,<br />

sich erlaubt hatte, das Grab seines Kindes durch ihre Gegenwart zu schänden, und er habe,<br />

getrieben „von einer unbekannten Kraft“, die arme Jelena Iwanowna beim Halse gepackt und<br />

hinausgeworfen – man würde auch das glauben, obwohl man [697] sich sagen könnte, daß<br />

die Geschichte ebensogut in einer gewöhnlichen Nacht diesen Ausgang hätte nehmen können.<br />

Und gleich darauf würde man den unversöhnlichen Matwej Nikolajewitsch vergessen,<br />

wie man jetzt den Matwej Nikolajewitsch vergißt, der aus Anlaß der „heiligen Nacht“ so gerührt<br />

war. Das ist ein schlimmes Zeichen. Und wir haben durchaus nicht die schwächsten<br />

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