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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

[694]<br />

W. Bystrenin*<br />

Geschichten aus dem Leben<br />

Skizzen und Erzählungen, M[oskau] 1895; Pr[eis]: 1 R[ubel]<br />

Jeder unserer bewußten Handlungen geht eine bestimmte Willensbewegung voraus, und jede<br />

Willensbewegung wird durch eine ganze Reihe von Bedingungen bestimmt, die im Zustand<br />

unseres Organismus oder in äußeren Einflüssen ihre Wurzel haben. Dabei sind diese Bedingungen<br />

einer Willensbewegung förderlich, andere hinderlich. So ist jede solche Bewegung<br />

das Resultat einer ganzen algebraischen Summe von Bedingungen. Der Prozeß ihrer Summierung<br />

vollzieht sich mehr oder weniger rasch und widerspiegelt sich in unserem Bewußtsein<br />

in Form des Kampfes verschiedener Empfindungen oder des Abwägens verschiedener<br />

Gründe zugunsten einer bestimmten Handlung oder gegen sie. Der Abschluß des Summierungsprozesses<br />

erscheint in unserem Bewußtsein als Sieg einer bestimmten Empfindung oder<br />

eines bestimmten Grundes, auf den der Entschluß folgt, so zu handeln und nicht anders. Will<br />

der Künstler die seelischen Vorgänge bei einer einzelnen Handlung oder einer ganzen Kette<br />

von Handlungen darstellen, so reproduziert er gerade diesen Bewußtseinsprozeß des Kampfes<br />

der verschiedenen Empfindungen und Gründe. Ist es eine wohlgelungene Reproduktion, so<br />

gewinnen wir die feste Überzeugung, daß der Held unter allen Umständen so handeln mußte,<br />

wie ihn der Künstler handeln ließ; ist sie aber farblos oder unvollständig, so ist das vor uns<br />

abrollende psychologische Bild nicht überzeugend. Der größere oder geringere Grad dieser<br />

künstlerischen Überzeugungskraft hängt von den Ausmaßen des künstlerischen Talents ab;<br />

manchmal fühlt der Künstler selbst, daß seine Darstellung recht wenig enthält. Dann beeilt er<br />

sich, Gründe zu <strong>nennen</strong>, warum sein Held nicht anders handeln konnte. Allein, besser macht<br />

man mit einer solchen Argumentation die Sache nicht. Jeder Mensch mit dem geringsten Maß<br />

an Erfahrung sieht sofort: der Autor ist seiner Aufgabe nicht gewachsen, er hat sich noch<br />

nicht jene Kunst, jene technische Routine angeeignet, ohne die es schwer ist, die natürlichen<br />

Kräfte des Talents voll zu verwerten. Und je rascher ein Künstler die schlechte Gewohnheit<br />

ablegt, etwas beweisen [695] zu wollen, wo man darstellen muß, Gründe zu bringen, wo man<br />

schildern muß – desto besser für ihn selbst wie auch für seine Leser.<br />

Diese Gedanken gingen uns bei der Lektüre des obengenannten Buches von Herrn Bystrenin<br />

durch den Kopf. Sein Talent ist nicht groß, und nicht besonders groß ist seine Fähigkeit, natürliche<br />

Gaben zu verwerten. Wenn Herr Bystrenin fühlt, sein künstlerisches Talent läßt ihn<br />

im Stich, dann ruft er die Macht der Logik zu Hilfe, von der er nicht selten noch schnöder im<br />

Stich gelassen wird. In der Skizze „Das Kind der Dorfgemeinschaft“ tritt ein Findling auf,<br />

Waska, der bereits im Kindesalter die Fähigkeit besitzt, „umfassende Pläne“ für den Kampf<br />

um seine Existenz zu schmieden. Es ist kein Wunder, daß dieses Kind, das elterliche Fürsorge<br />

nie gekannt hat, schon sehr früh gewohnt ist, sich nur auf sich selbst zu verlassen, und<br />

daher unternehmender, ausdauernder und selbständiger wird als seine Altersgenossen, die im<br />

Schoße ihrer Familie aufgewachsen sind. Aber Herr Bystrenin fürchtet, wir könnten an dieser<br />

alten Wahrheit zweifeln, und beeilt sich, einige neue Argumente dafür anzuführen. „Waska<br />

mag noch so unwissend gewesen sein“‚ sagt er unter anderem, „Lebensinstinkt, Anpassungsfähigkeit<br />

und auch Schläue waren in ihm doch sehr stark entwickelt. Vielleicht war das ein<br />

Einfluß der Vererbung; denn seine Mutter war gezwungen gewesen, das Kind auszusetzen,<br />

nachdem sie verständlicherweise vorher eine ganze Reihe seelischer Erschütterungen durchgemacht<br />

hatte, und diese Empfindungen waren ganz auf ihn übergegangen“ (S. 117). Diese<br />

Erwägungen kann man nicht als gelungen bezeichnen. Daß eine Frau, die schwere Lebens-<br />

* Anmerkungen zu: W. Bystrenin (S. 694-699) am Ende des Kapitels.<br />

1

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