erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 [668] N. I. Naumow* I. In den siebziger Jahren erfreute sich N. I. Naumow bei den führenden Schichten unserer volkstümlerischen (damals fortschrittlichsten) „Intelligenz“ ungemein großer Beliebtheit. Seine Werke wurden eifrig gelesen. Besonderen Erfolg hatte die Sammlung „Kraft bezwingt alles“. Jetzt haben sich die Zeiten natürlich geändert, und niemand wird sich mehr für die Werke Naumows so begeistern wie etwa vor zwanzig Jahren. Aber jeder, der an gewissen „verfluchten Fragen“ der Gegenwart nicht achtlos vorübergeht, wird sie auch jetzt noch mit Interesse und nicht ohne persönlichen Nutzen lesen; und solange man sich bei uns für die in vieler Beziehung wichtige und lehrreiche Epoche der siebziger Jahre interessiert, werden sie von großem historischen Interesse sein. Man rechnet N. I. Naumow gewöhnlich zu den volkstümlerischen Belletristen. Und das natürlich mit Recht, denn er ist erstens Belletrist und zweitens Volkstümler. Aber seine Belletristik hat einen besonderen Charakter. Wenn bei allen unseren volkstümlerischen Belletristen überhaupt das publizistische Element einen sehr breiten Raum einnimmt, so ist das eigentlich künstlerische Element bei Naumow diesem vollständig untergeordnet. Wir wollen noch mehr sagen: in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle könnte man überhaupt nicht gut von einem künstlerischen Element in den Werken Naumows sprechen – es fehlt fast immer vollständig; Naumow war es sicherlich selten um künstlerisches Schaffen zu tun. Er hatte ein anderes Ziel. In seiner Skizze „Bergidyll“ bemerkt der wißbegierige und ziemlich belesene Kleinbürger Nikita Wassilewitsch Jeremin, den das Schicksal in eine Umgebung mit unkultivierten fremdstämmigen Menschen am Rande des Altaigebirges verschlagen hat, daß es gut wäre, über die furchtbare Ausbeutung, der die Nichtrussen von seiten der Kulaken und sogar ihrer nächsten Vorgesetzten unterworfen werden, „etwas in der Zeitung zu schreiben“. Aber er steht davon ab, weil er befürchtet, andere Schriftsteller, die auf der gesellschaftlichen Stufen-[669]leiter über ihm stehen, würden ihn vielleicht lächerlich machen. Zudem weiß er nicht, „wie er anfangen soll“. Auch Naumow wollte über die ihm recht wohl bekannte schwere Lage der russischen Bauern und der nicht-russischen Bevölkerung „schreiben“. Als Mensch von Bildung, der die Feder zu führen verstand, wußte er schon, „wie er anfangen sollte“, und den Spott anderer Schriftsteller fürchtete er nicht. So hat er denn auch eine Reihe von Erzählungen, „Studien“, Szenen, Skizzen u. a. geschrieben. Alle seine Werke sind in belletristischer Form gehalten, aber schon bei ganz flüchtigem Lesen merkt man, daß diese Form etwas Äußerliches, eine künstliche Zutat ist. Er wollte zum Beispiel die geradezu grausige und himmelschreiende Ausbeutung „beschreiben“, der die Goldgrubenarbeiter, wenn sie nach Beendigung ihrer sommerlichen Arbeit durch die sibirischen Dörfer zogen, ausgesetzt sind. Er hätte das natürlich in einem einfachen Artikel oder in einer Reihe von Artikeln tun können. Aber ihm schien, daß ein belletristisches Werk stärker auf den Leser einwirkt – und schrieb „Szenen“ mit dem allgemeinen Titel „Das Spinngewebe“. Einige dieser Szenen sind wirklich meisterhaft geschrieben und lassen im Verfasser ein unbestreitbares künstlerisches Talent erkennen. Als Beispiel hierfür wollen wir auf die Szene verweisen, wo dem angetrunkenen Arbeiter Jewsei im Laden des „Handel treibenden Bauern“ Iwan Matwjeïtsch Sachen aufgeschwätzt werden (Werke, Bd. I, S. 88-97). Aber das ist eine der glücklichen Ausnahmen. Die Mehrzahl der übrigen „Szenen“ aber, obgleich auch sie die Vertrautheit des Verfas- * Anmerkungen zu: W. I. Naumow (S. 668-692) Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ (1897, Nr. 8, Mai) unter dem Pseudonym N. Kamenski. Hier drucken wir den Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. X, S. 110-132). 1
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 sers mit dem von ihm geschilderten Milieu beweisen, zeichnen sich durch eine schreckliche Weitschweifigkeit und eine in die Augen springende gekünstelte Art aus. Diese Szenen wurden schnell zusammengeschustert, um diese oder jene Form der Ausbeutung darzustellen. Die darin auftretenden Personen sind nicht Menschen aus dem wirklichen Leben, sondern anthropomorphe Abstraktionen, denen der Verfasser die Gabe der Rede oder, besser gesagt, die Gabe der Geschwätzigkeit verliehen hat, die sie zum Zwecke der Aufklärung des Lesers denn auch schrecklich mißbrauchen. Besonders geschwätzig sind die Ausbeuter, die manchmal von sich geradezu sagen: Sucht bei uns weder Scham noch Gewissen. 1 Aber sie können nicht anders sein als geschwätzig: die Geschwätzigkeit ist ihre erste und fast einzige Verpflichtung; wären sie nicht geschwätzig, hätte Naumow mit ihnen [670] nichts anfangen können. Die Charaktere der Kulaken schildert er gewöhnlich in Dialogform. Er fährt dienstlich irgendwohin, kehrt zufällig bei irgendeinem Kulaken ein und beginnt, ihm eine Reihe von Fragen vorzulegen, auf die der Kulak dann die entsprechenden Antworten gibt. Die Fragen sind gewöhnlich recht naiv und mitunter ausgesprochen unpassend. So versichert zum Beispiel der reiche Kulak Kusma Terentitsch in dem Werk „Das Spinngewebe“, sein Leben sei kein Leben, sondern „das reinste Zuchthaus“. Aus diesem Anlaß fragt der Verfasser: „Wenn Sie sich bewußt sind, Kusma Terentitsch, daß ein Gewerbe wie das Ihrige sowohl beschwerlich als auch gefährlich ist, warum geben Sie es nicht auf und setzen sich nicht länger solchen Mühen und Gefahren aus, he?“ (Bd. I, S. 65.) Der Kulak legt dar, daß dies unmöglich sei; die Unterhaltung wird lebhaft, sie zieht sich über mehrere Seiten hin, aber das braucht der Verfasser gerade – nur deswegen hat er seine naive Frage gestellt. In der Skizze „Bergidyll“ weist der schon erwähnte Kleinbürger Jeremin, einmal ins Reden gekommen, darauf hin, daß die sibirischen Beamten den gesetzwidrigen Schnapsverkauf an die fremdstämmige Bevölkerung nicht nur nicht verhindern, sondern selber in den Nomadenlagern der Fremdstämmigen mit Schnaps handeln. „Kommen sie denn ausschließlich zum Schnapshandel in die Berge?“ fragt der Verfasser. Jeremin ruft selbstverständlich aus: „Aber keineswegs, wie wär’ denn das möglich!“, und dann schildert er ausführlich, was die Beamten machen. So kommt dann eine interessante Skizze zustande, die Sie sicherlich mit großem Genuß lesen werden. Aber wenn Sie sich erinnern, welch naive Frage diese Skizze veranlaßt hat, wenn Sie berücksichtigen, daß der Verfasser oder, besser gesagt, die Person, unter deren Namen die Erzählung geführt wird, selbst Beamter ist und daß die von ihm gestellte Frage dadurch noch unvergleichlich naiver wird, so werden Sie sich unwillkürlich über die primitive, einfältige Art wundern, mit der Naumow in künstlerischer Hinsicht zu Werke geht; Sie werden zugeben, daß man ihn nur mit gewissen Vorbehalten als Belletristen bezeichnen kann. Der Verfasser gibt sich selten auch nur die geringe Mühe, die notwendig ist, um selbst nur naive Fragen auszudenken. Meist wiederholt er immer dieselben gleichförmigen Phrasen wie: „Ist denn das auch alles wahr?“ oder: „Lügst du das alles nicht zusammen?“ Und diese Phrasen [671] reichen aus, um die Redseligkeit seiner Gesprächspartner manchmal sogar, wie wir bereits gesagt haben, im Übermaß anzuregen. 1 In der überaus langen „Szene“ mit der Abrechnung für das Quartier sagt der Bauer Mark Antonytsch zu den von ihm übervorteilten Arbeitern, die bei ihm Quartier genommen haben: „Bei uns schert man sich überhaupt nicht um so was wie das Gewissen, weil man, wie es heißt, das Brot ums Geld verkauft und es nicht nach dem Gewissen abwiegt... Aber wirklich, man muß schon sagen, bei uns, da sind vor Gott alle Sünder, einen rechtschaffenen Menschen findet man nicht. Und deshalb wird bei uns auch die Kohlsuppe nicht, wie bei euch, mit Gebet, sondern mit Fleisch [670] zubereitet“ (Bd. I, S. 154). Das ist stark und leuchtet auch einem Leser vollkommen ein, der sonst gar nichts begreift: Wenn sich das Laster selbst als Laster anpreist, wird es niemand für eine Tugend halten. Aber nicht immer neigt das Laster bei Naumow zur Selbstbeschuldigung. Der gleiche schamlose Mark Antonytsch gibt auf den Ausruf eines seiner Opfer: „Plündere nur die Leute aus!“ vorwurfsvoll zur Antwort: „Mein Lieber, wozu solche Worte?“ Und das ist viel natürlicher. 2
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sers mit dem von ihm geschilderten Milieu beweisen, zeichnen sich durch eine schreckliche<br />
Weitschweifigkeit und eine in die Augen springende gekünstelte Art aus. Diese Szenen wurden<br />
schnell zusammengeschustert, um diese oder jene Form der Ausbeutung darzustellen.<br />
Die darin auftretenden Personen sind nicht Menschen aus dem wirklichen Leben, sondern<br />
anthropomorphe Abstraktionen, denen der Verfasser die Gabe der Rede oder, besser gesagt,<br />
die Gabe der Geschwätzigkeit verliehen hat, die sie zum Zwecke der Aufklärung des Lesers<br />
denn auch schrecklich mißbrauchen. Besonders geschwätzig sind die Ausbeuter, die manchmal<br />
von sich geradezu sagen: Sucht bei uns weder Scham noch Gewissen. 1 Aber sie können<br />
nicht anders sein als geschwätzig: die Geschwätzigkeit ist ihre erste und fast einzige Verpflichtung;<br />
wären sie nicht geschwätzig, hätte Naumow mit ihnen [670] nichts anfangen können.<br />
Die Charaktere der Kulaken schildert er gewöhnlich in Dialogform. Er fährt dienstlich<br />
irgendwohin, kehrt zufällig bei irgendeinem Kulaken ein und beginnt, ihm eine Reihe von<br />
Fragen vorzulegen, auf die der Kulak dann die entsprechenden Antworten gibt. Die Fragen<br />
sind gewöhnlich recht naiv und mitunter ausgesprochen unpassend. So versichert zum Beispiel<br />
der reiche Kulak Kusma Terentitsch in dem Werk „Das Spinngewebe“, sein Leben sei<br />
kein Leben, sondern „das reinste Zuchthaus“. Aus diesem Anlaß fragt der Verfasser: „Wenn<br />
Sie sich bewußt sind, Kusma Terentitsch, daß ein Gewerbe wie das Ihrige sowohl beschwerlich<br />
als auch gefährlich ist, warum geben Sie es nicht auf und setzen sich nicht länger solchen<br />
Mühen und Gefahren aus, he?“ (Bd. I, S. 65.) Der Kulak legt dar, daß dies unmöglich sei; die<br />
Unterhaltung wird lebhaft, sie zieht sich über mehrere Seiten hin, aber das braucht der Verfasser<br />
gerade – nur deswegen hat er seine naive Frage gestellt. In der Skizze „Bergidyll“<br />
weist der schon erwähnte Kleinbürger Jeremin, einmal ins Reden gekommen, darauf hin, daß<br />
die sibirischen Beamten den gesetzwidrigen Schnapsverkauf an die fremdstämmige Bevölkerung<br />
nicht nur nicht verhindern, sondern selber in den Nomadenlagern der Fremdstämmigen<br />
mit Schnaps handeln. „Kommen sie denn ausschließlich zum Schnapshandel in die Berge?“<br />
fragt der Verfasser. Jeremin ruft selbstverständlich aus: „Aber keineswegs, wie wär’ denn das<br />
möglich!“, und dann schildert er ausführlich, was die Beamten machen. So kommt dann eine<br />
interessante Skizze zustande, die Sie sicherlich mit großem Genuß lesen werden. Aber wenn<br />
Sie sich erinnern, welch naive Frage diese Skizze veranlaßt hat, wenn Sie berücksichtigen,<br />
daß der Verfasser oder, besser gesagt, die Person, unter deren Namen die Erzählung geführt<br />
wird, selbst Beamter ist und daß die von ihm gestellte Frage dadurch noch unvergleichlich<br />
naiver wird, so werden Sie sich unwillkürlich über die primitive, einfältige Art wundern, mit<br />
der Naumow in künstlerischer Hinsicht zu Werke geht; Sie werden zugeben, daß man ihn nur<br />
mit gewissen Vorbehalten als Belletristen bezeichnen kann.<br />
Der Verfasser gibt sich selten auch nur die geringe Mühe, die notwendig ist, um selbst nur<br />
naive Fragen auszudenken. Meist wiederholt er immer dieselben gleichförmigen Phrasen wie:<br />
„Ist denn das auch alles wahr?“ oder: „Lügst du das alles nicht zusammen?“ Und diese Phrasen<br />
[671] reichen aus, um die Redseligkeit seiner Gesprächspartner manchmal sogar, wie wir<br />
bereits gesagt haben, im Übermaß anzuregen.<br />
1 In der überaus langen „Szene“ mit der Abrechnung für das Quartier sagt der Bauer Mark Antonytsch zu den von<br />
ihm übervorteilten Arbeitern, die bei ihm Quartier genommen haben: „Bei uns schert man sich überhaupt nicht um<br />
so was wie das Gewissen, weil man, wie es heißt, das Brot ums Geld verkauft und es nicht nach dem Gewissen<br />
abwiegt... Aber wirklich, man muß schon sagen, bei uns, da sind vor Gott alle Sünder, einen rechtschaffenen Menschen<br />
findet man nicht. Und deshalb wird bei uns auch die Kohlsuppe nicht, wie bei euch, mit Gebet, sondern mit<br />
Fleisch [670] zubereitet“ (Bd. I, S. 154). Das ist stark und leuchtet auch einem Leser vollkommen ein, der sonst gar<br />
nichts begreift: Wenn sich das Laster selbst als Laster anpreist, wird es niemand für eine Tugend halten. Aber nicht<br />
immer neigt das Laster bei Naumow zur Selbstbeschuldigung. Der gleiche schamlose Mark Antonytsch gibt auf<br />
den Ausruf eines seiner Opfer: „Plündere nur die Leute aus!“ vorwurfsvoll zur Antwort: „Mein Lieber, wozu solche<br />
Worte?“ Und das ist viel natürlicher.<br />
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