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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

[64] Oft ist dieser Trieb, Tiere nachzuahmen, mit religiösen Anschauungen der primitiven<br />

Völker verbunden. 1<br />

Das ändert jedoch an der Sache nicht das mindeste.<br />

Sähe nämlich der primitive Mensch die niederen Tiere mit unseren Augen, so würden sie in<br />

seinen religiösen Vorstellungen wahrscheinlich keinen Platz einnehmen. Er sieht sie aber<br />

anders. Und weshalb anders? Weil er auf einer anderen Kulturstufe steht. Das bedeutet:<br />

Wenn der Mensch in dem einen Fall bestrebt ist, die niederen Tiere nachzuahmen, und in<br />

dem anderen Fall, sich ihnen gegenüberzustellen, so hängt das vom Zustand seiner Kultur ab,<br />

das heißt nichts anderes als: von den gesellschaftlichen Bedingungen, von denen bei mir weiter<br />

oben die Rede war. Ich kann mich übrigens genauer ausdrücken; ich sage: es hängt von<br />

der Entwicklungsstufe seiner Produktivkräfte ab, von seiner Produktionsweise. Und damit<br />

man mich nicht der Übertreibung und der „Einseitigkeit“ beschuldigt, lasse ich den von mir<br />

schon angeführten deutschen Reisenden von den Steinen für mich sprechen. „Wir können<br />

diese Menschen nur verstehen“, sagt er von den brasilianischen Indianern, „wenn wir sie als<br />

das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen sammelten sie an<br />

Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch das Alte ein Neues zu verstehen<br />

vermag, erklärten sie sich vorwiegend die Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung.<br />

Dementsprechend sind ihre künstlerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden<br />

Einseitigkeit dem Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt<br />

in dem Jägerleben...“ 2<br />

Tschernyschewski schrieb einst in seiner Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der<br />

Kunst zur Wirklichkeit“, „daß uns an Pflanzen frische Farben und üppige, reiche Formen<br />

gefallen, die von kraftvollem frischem Leben zeugen. Eine welkende Pflanze ist nicht schön;<br />

eine Pflanze ohne rechte Lebenssäfte ist nicht schön...“. 3 Die Dissertation Tschernyschewskis<br />

ist ein äußerst interessantes und einzigartiges Beispiel der Anwen-[65]dung der allgemeinen<br />

Prinzipien des Feuerbachschen Materialismus auf die Fragen der Ästhetik.<br />

Aber die Geschichte war immer der schwache Punkt dieses Materialismus, und das ist recht<br />

deutlich aus den von mir eben zitierten Zeilen: „daß uns an Pflanzen... gefallen“, zu ersehen.<br />

Was heißt „uns“? Die Geschmacksrichtungen der Menschen sind doch äußerst wandelbar,<br />

worauf Tschernyschewski in demselben Werk mehr als einmal hingewiesen hat. Bekanntlich<br />

schmücken sich die primitiven Völker, zum Beispiel die Buschmänner und die Australier,<br />

niemals mit Blumen, obwohl sie in Ländern leben, die sehr reich an Blumen sind. Die Tasmanier<br />

sollen eine Ausnahme machen, aber heutzutage läßt sich die Richtigkeit dieser Nachricht<br />

nicht mehr nachprüfen: die Tasmanier sind ausgestorben. Jedenfalls ist wohlbekannt,<br />

daß in der Ornamentik der primitiven, sagen wir genauer: der Jägervölker, die ihre Motive<br />

aus der Tierwelt entlehnen, Pflanzen gänzlich fehlen. Die moderne Wissenschaft erklärt das<br />

ebenfalls mit nichts anderem als mit dem Stand der Produktivkräfte.<br />

„Die omamentalen Motive, welche die Jägerstämme der Natur entlehnt haben, bestehen fast<br />

ausschließlich in tierischen und menschlichen Formen“, sagt Ernst Grosse. „Sie wählen also<br />

gerade diejenigen Erscheinungen, welche für sie das höchste praktische Interesse haben. Die<br />

mit Wohlgefallen und mit einem gewissen Stolz.“ „Histoire, mœurs et coutumes des nations indiennes, qui habitaient<br />

autrefois la Pensylvanie et les états voisins, par le révérend Jean Heckewelder, missionnaire morave, trad.<br />

de l’anglais par le chevalier Du Ponceau.“ A Paris 1822, p. 324. Ich habe den vollen Titel dieses Buches angeführt,<br />

weil es eine Menge interessantester Belege. enthält, und ich möchte es dem Leser anempfehlen. Ich werde<br />

es noch mehrmals anführen müssen.<br />

1 Vgl. J. G. Frazer, „Le totémisme“, Paris. 1898, p. 39 ff.;. Schweinfurth, „Au cœur de l’Afrique“, I, p. 381.<br />

2 Genanntes Werk, S. 201. [von den Steinen, „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens“.]<br />

3 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1955, S. 373, deutsch.]<br />

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