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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

„Gesicht“ kennen. Sie beginnt sich auch der ganz armen Leute im Dorfe zu bemächtigen. Die<br />

„herumziehenden Leute“ kennen sie vielleicht noch besser. Wie der Bauer seine Unmittelbarkeit<br />

verliert und auf sich selbst zurückblickt, trägt er dem russischen gesellschaftlichen<br />

Leben neue Forderungen an. Vor diesen Forderungen erweisen sich die gesellschaftlichen<br />

und politischen Einrichtungen unserer Zeit als unzulänglich – und damit sind sie geschichtlich<br />

erledigt. Natürlich zeigt das bäuerliche Denken, nun es gerade aus seinem tausendjährigen<br />

Schlaf erwacht, durchaus nicht schon jene ganze Kraft und Festigkeit, die wir in der Zukunft<br />

von ihm erwarten dürfen. Die ersten Versuche der Bauern, selbständig zu denken, mißglücken<br />

häufig, sie schlagen eine falsche, krankhafte Richtung ein. Aber es ist schon etwas<br />

wert, daß es solche Versuche gibt; gut ist es auch, daß unsere volkstümlerische Belletristik es<br />

verstanden hat, sie festzuhalten und zu Papier zu bringen. Mehrere Erzählungen Karonins<br />

sind speziell ihrer Darstellung gewidmet. Wir wollen uns zunächst einmal mit der Erzählung<br />

„Die Nerven des Dorfes“ näher befassen.<br />

Der Bauer Gawrilo zeichnete sich durch eine beträchtliche Wohlhabenheit aus und hätte, gemessen<br />

an den alten bäuerlichen Verhältnissen, wie es schien, glücklich sein können.<br />

„Was ist Glück?“ fragt unser Autor. „Oder, besser gesagt, was bedeutet für Gawrilo Glück?<br />

Ein Stück Land, ein Wallach, eine junge Kuh und ein junger Ochse, drei Schafe, Getreide<br />

und Kohl und viele andere Dinge; denn er wäre unglücklich, wenn von den aufgezählten<br />

Dingen eines fehlte. In jenem Jahr, als ihm die Kuh verreckte, stöhnte er mehrere Nächte hindurch<br />

wie im Fieber... Aber solche Katastrophen kamen selten vor; er vermied sie, indem er<br />

ihnen vorbeugte oder indem er den Schaden wieder behob. Brotgetreide? Das hatte er immer<br />

genug. Selbst in den Jahren der größten Hungersnot hatte er ein paar Sack Mehl vorrätig,<br />

wenn er es den gierigen Nachbarn auch verheimlichte, um nicht dem einen oder andern von<br />

ihnen aushelfen zu müssen. Und der Wallach? Der Wallach [650] hatte ihm fünfzehn Jahre<br />

hindurch treu gedient und war nie daran gewesen zu krepieren; in letzter Zeit mußte er allerdings<br />

auf einmal recht schnaufen, und mit den Hinterbeinen ging es nicht mehr recht, aber<br />

Gawrilo hatte ein zweijähriges Fohlen, falls der Gaul jetzt verenden sollte.“ Mit einem Wort,<br />

Iwan Jermolajewitsch, den Gl. Uspenski so unnachahmlich geschildert und der ihn so gefesselt<br />

hat, wäre an Gawrilos Stelle mit sich selbst und seiner ganzen Umgebung sicherlich ganz<br />

zufrieden gewesen. Aber Uspenski selbst erkennt, daß sich Iwan Jermolajewitsch bereits<br />

überlebt hat. Das ist ein Typus, der von der Geschichte verurteilt ist, zu verschwinden. Der<br />

Held der Erzählung „Die Nerven des Dorfes“ besitzt durchaus nicht jene hölzerne Ausgeglichenheit<br />

des Iwan Jermolajewitsch. Er ist „nervenkrank“, worüber sich der Dorfbader gar<br />

nicht genug wundern kann und was den Lesern wieder einmal Veranlassung gibt, Karonin zu<br />

beschuldigen, seine Schilderungen seien tendenziös. Der krankhafte „nervöse“ Zustand des<br />

Bauern Gawrilo äußert sich darin, daß ihn plötzlich eine unerträgliche, verzweifelt gedrückte<br />

Gemütsstimmung überkommt, unter deren Einfluß ihm nichts mehr von der Hand geht. „Der<br />

Teufel soll alles holen!“ gibt er seinem Weibe zur Antwort, als diese ihn bedeutet, daß es Zeit<br />

sei, aufs Feld zu gehen. Die Frau kann sich vor Staunen gar nicht fassen, und Gawrilo selbst<br />

ist entsetzt über seine eigenen Worte; aber die „Nerven“ lassen sich auch nicht eine Minute<br />

lang beruhigen, und unser Held geht hin und spricht mit dem Pfarrer. „Ich möchte mit dir<br />

reden, genauso, wie wenn ich vor dem lieben Gott stünde“, sagt er zu dem Geistlichen. „Ich<br />

muß sagen, wie es ist, ich weiß mir nicht mehr zu helfen, mit einem Wort – ich möchte am<br />

liebsten Hand an mich legen. Mich hat’s nämlich richtig gepackt.“ Der würdige Diener Gottes,<br />

der nur die olympische Ruhe von Leuten wie Iwan Jermolajewitsch gewohnt war, konnte<br />

gar nicht verstehen, was seinem sonderbaren Besucher fehle.<br />

‚Ja ich versteh’ gar nicht, was ist denn das für eine Krankheit?‘ rief er aus. ‚Ich meine, es ist<br />

bloße Einbildung... Was soll denn das für eine Krankheit sein?‘<br />

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