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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 Natürlich sind solche bekannt, werde ich antworten, und in dem von Taine angeführten Beispiel ist gerade die Rede von unserer Beziehung zu den Eindrücken, die die Natur auf uns ausübt. Aber es handelt sich ja gerade darum, daß sich der Einfluß solcher Eindrücke auf uns verändert, je nachdem sich unsere eigene Beziehung zur Natur ändert, und daß diese Beziehung durch den Gang unserer (d. h. gesellschaftlichen) Kultur bestimmt wird. In dem von Taine angeführten Beispiel ist von der Landschaft die Rede. Beachten Sie, geehrter Herr, daß die Landschaft in der Geschichte der Malerei bei weitem keinen ständigen Platz einnimmt. Michelangelo und seine Zeitgenossen haben sie mißachtet. Sie blüht in Italien erst ganz am Ende der Renaissance, in der Zeit des Niedergangs auf. Und genauso hat sie auch für die französischen Maler des 17. und selbst des 18. Jahrhunderts keine selbständige Bedeutung. Im 19. Jahrhundert ändert sich die Sache ganz plötzlich: man beginnt die Landschaft um der Landschaft willen zu schätzen, und junge Maler – Flers, Cabat, Théodore Rousseau – suchen im Schoße der Natur, in der Umgebung von Paris, in Fontainebleau und Melun, solche Inspirationen, von denen Künstler der Zeit Lebruns und Bouchers nicht einmal die bloße Möglichkeit vermuteten. Warum das? Weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen Frank-[63]reichs geändert hatten, und in ihrem Gefolge hatte sich auch die Psychologie der Franzosen geändert. So erhält der Mensch in den verschiedenen Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung von der Natur verschiedene Eindrücke, weil er sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. Die Wirkung der allgemeinen Gesetze der psychischen Natur des Menschen setzt natürlich in keiner dieser Epochen aus. Da aber in den verschiedenen Epochen, infolge des Unterschiedes in den gesellschaftlichen Beziehungen, in die menschlichen Köpfe ein ganz und gar nicht gleichartiges Material gelangt, ist es kein Wunder, daß auch die Ergebnisse seiner Bearbeitung keineswegs die gleichen sind. Noch ein Beispiel. Einige Schriftsteller haben den Gedanken ausgesprochen, am Äußeren eines Menschen erscheine uns alles das als unschön, was an die Züge niederer Tiere erinnert. Das ist, auf die zivilisierten Völker angewandt, richtig, obgleich es auch da nicht wenige Ausnahmen gibt: Der „Löwenkopf“ erscheint keinem von uns als häßlich. Trotz solcher Ausnahmen kann man hier jedoch behaupten, daß der Mensch, weil er sich im Vergleich zu allen Verwandten aus dem Tierreich für ein unvergleichlich höheres Geschöpf hält, Angst hat, ihnen zu ähneln, und sich sogar bemüht, seine Unähnlichkeit mit ihnen besonders zu betonen, zu übertreiben. 1 Angewandt auf die Urvölker, ist es entschieden unrichtig. Bekanntlich ziehen sich einige unter ihnen die oberen Schneidezähne aus, um Wiederkäuern zu ähneln, andere beschleifen sie, um Raubtieren zu gleichen, die dritten flechten ihre Haare so, daß sie die Form von Hörnern annehmen, und so fast bis ins Endlose. 2 1 „In dieser Idealisierung der Natur ließ sich die Skulptur von Fingerzeigen der Natur selbst leiten; sie überhöhte hauptsächlich Merkmale, die den Menschen vom Tiere unterscheiden. Die aufrechte Stellung führte zu größerer Schlankheit und Länge der Beine, die zunehmende Steile des Schädelwinkels in der Tierreihe zur Bildung des griechischen Profils, der allgemeine, schon von Winckelmann ausgesprochene Grundsatz, daß die Natur, wo sie Flächen unterbreche, dies nicht stumpf, sondern mit Entschiedenheit tue, ließ die scharfen Ränder der Augenhöhle und der Nasenbeine sowie den ebenso scharfgerandeten Schnitt der Lippen vorziehen.“ Lotze, „Geschichte der Ästhetik in Deutschland“, München 1868, S. 568. 2 Der Missionar Heckewelder erzählt, daß er einmal zu einem bekannten Indianer kam, der sich gerade zum Tanze herrichtete, welcher bei den primitiven Völkern bekanntlich eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung hat. Der Indianer hatte sich das Gesicht auf folgende komplizierte Weise bemalt: „Wenn ich ihn im Profil von der einen Seite betrachtete, so stellte seine Nase einen sehr gut nachgeahmten Adlerschnabel dar. Schaute ich von der anderen Seite, so sah die gleiche Nase wie ein Schweinerüssel aus... Der Indianer war mit seiner Arbeit offensichtlich sehr [64] zufrieden, und da er auch einen Spiegel mitgenommen hatte, betrachtete er sich darin 16

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 [64] Oft ist dieser Trieb, Tiere nachzuahmen, mit religiösen Anschauungen der primitiven Völker verbunden. 1 Das ändert jedoch an der Sache nicht das mindeste. Sähe nämlich der primitive Mensch die niederen Tiere mit unseren Augen, so würden sie in seinen religiösen Vorstellungen wahrscheinlich keinen Platz einnehmen. Er sieht sie aber anders. Und weshalb anders? Weil er auf einer anderen Kulturstufe steht. Das bedeutet: Wenn der Mensch in dem einen Fall bestrebt ist, die niederen Tiere nachzuahmen, und in dem anderen Fall, sich ihnen gegenüberzustellen, so hängt das vom Zustand seiner Kultur ab, das heißt nichts anderes als: von den gesellschaftlichen Bedingungen, von denen bei mir weiter oben die Rede war. Ich kann mich übrigens genauer ausdrücken; ich sage: es hängt von der Entwicklungsstufe seiner Produktivkräfte ab, von seiner Produktionsweise. Und damit man mich nicht der Übertreibung und der „Einseitigkeit“ beschuldigt, lasse ich den von mir schon angeführten deutschen Reisenden von den Steinen für mich sprechen. „Wir können diese Menschen nur verstehen“, sagt er von den brasilianischen Indianern, „wenn wir sie als das Erzeugnis des Jägertums betrachten. Den Hauptstock ihrer Erfahrungen sammelten sie an Tieren, und mit diesen Erfahrungen, weil man nur durch das Alte ein Neues zu verstehen vermag, erklärten sie sich vorwiegend die Natur, bildeten sie sich ihre Weltanschauung. Dementsprechend sind ihre künstlerischen Motive, wie wir sehen werden, mit einer verblüffenden Einseitigkeit dem Tierreich entlehnt, ja ihre ganze überraschend reiche Kunst wurzelt in dem Jägerleben...“ 2 Tschernyschewski schrieb einst in seiner Dissertation „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“, „daß uns an Pflanzen frische Farben und üppige, reiche Formen gefallen, die von kraftvollem frischem Leben zeugen. Eine welkende Pflanze ist nicht schön; eine Pflanze ohne rechte Lebenssäfte ist nicht schön...“. 3 Die Dissertation Tschernyschewskis ist ein äußerst interessantes und einzigartiges Beispiel der Anwen-[65]dung der allgemeinen Prinzipien des Feuerbachschen Materialismus auf die Fragen der Ästhetik. Aber die Geschichte war immer der schwache Punkt dieses Materialismus, und das ist recht deutlich aus den von mir eben zitierten Zeilen: „daß uns an Pflanzen... gefallen“, zu ersehen. Was heißt „uns“? Die Geschmacksrichtungen der Menschen sind doch äußerst wandelbar, worauf Tschernyschewski in demselben Werk mehr als einmal hingewiesen hat. Bekanntlich schmücken sich die primitiven Völker, zum Beispiel die Buschmänner und die Australier, niemals mit Blumen, obwohl sie in Ländern leben, die sehr reich an Blumen sind. Die Tasmanier sollen eine Ausnahme machen, aber heutzutage läßt sich die Richtigkeit dieser Nachricht nicht mehr nachprüfen: die Tasmanier sind ausgestorben. Jedenfalls ist wohlbekannt, daß in der Ornamentik der primitiven, sagen wir genauer: der Jägervölker, die ihre Motive aus der Tierwelt entlehnen, Pflanzen gänzlich fehlen. Die moderne Wissenschaft erklärt das ebenfalls mit nichts anderem als mit dem Stand der Produktivkräfte. „Die omamentalen Motive, welche die Jägerstämme der Natur entlehnt haben, bestehen fast ausschließlich in tierischen und menschlichen Formen“, sagt Ernst Grosse. „Sie wählen also gerade diejenigen Erscheinungen, welche für sie das höchste praktische Interesse haben. Die mit Wohlgefallen und mit einem gewissen Stolz.“ „Histoire, mœurs et coutumes des nations indiennes, qui habitaient autrefois la Pensylvanie et les états voisins, par le révérend Jean Heckewelder, missionnaire morave, trad. de l’anglais par le chevalier Du Ponceau.“ A Paris 1822, p. 324. Ich habe den vollen Titel dieses Buches angeführt, weil es eine Menge interessantester Belege. enthält, und ich möchte es dem Leser anempfehlen. Ich werde es noch mehrmals anführen müssen. 1 Vgl. J. G. Frazer, „Le totémisme“, Paris. 1898, p. 39 ff.;. Schweinfurth, „Au cœur de l’Afrique“, I, p. 381. 2 Genanntes Werk, S. 201. [von den Steinen, „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens“.] 3 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1955, S. 373, deutsch.] 17

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Natürlich sind solche bekannt, werde ich antworten, und in dem von Taine angeführten Beispiel<br />

ist gerade die Rede von unserer Beziehung zu den Eindrücken, die die Natur auf uns<br />

ausübt. Aber es handelt sich ja gerade darum, daß sich der Einfluß solcher Eindrücke auf uns<br />

verändert, je nachdem sich unsere eigene Beziehung zur Natur ändert, und daß diese Beziehung<br />

durch den Gang unserer (d. h. gesellschaftlichen) Kultur bestimmt wird.<br />

In dem von Taine angeführten Beispiel ist von der Landschaft die Rede. Beachten Sie, geehrter<br />

Herr, daß die Landschaft in der Geschichte der Malerei bei weitem keinen ständigen Platz<br />

einnimmt. Michelangelo und seine Zeitgenossen haben sie mißachtet. Sie blüht in Italien erst<br />

ganz am Ende der Renaissance, in der Zeit des Niedergangs auf.<br />

Und genauso hat sie auch für die französischen Maler des 17. und selbst des 18. Jahrhunderts<br />

keine selbständige Bedeutung. Im 19. Jahrhundert ändert sich die Sache ganz plötzlich: man<br />

beginnt die Landschaft um der Landschaft willen zu schätzen, und junge Maler – Flers, Cabat,<br />

Théodore Rousseau – suchen im Schoße der Natur, in der Umgebung von Paris, in<br />

Fontainebleau und Melun, solche Inspirationen, von denen Künstler der Zeit Lebruns und<br />

Bouchers nicht einmal die bloße Möglichkeit vermuteten. Warum das? Weil sich die gesellschaftlichen<br />

Bedingungen Frank-[63]reichs geändert hatten, und in ihrem Gefolge hatte sich<br />

auch die Psychologie der Franzosen geändert. So erhält der Mensch in den verschiedenen<br />

Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung von der Natur verschiedene Eindrücke, weil er<br />

sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet.<br />

Die Wirkung der allgemeinen Gesetze der psychischen Natur des Menschen setzt natürlich in<br />

keiner dieser Epochen aus. Da aber in den verschiedenen Epochen, infolge des Unterschiedes<br />

in den gesellschaftlichen Beziehungen, in die menschlichen Köpfe ein ganz und gar nicht<br />

gleichartiges Material gelangt, ist es kein Wunder, daß auch die Ergebnisse seiner Bearbeitung<br />

keineswegs die gleichen sind.<br />

Noch ein Beispiel. Einige Schriftsteller haben den Gedanken ausgesprochen, am Äußeren<br />

eines Menschen erscheine uns alles das als unschön, was an die Züge niederer Tiere erinnert.<br />

Das ist, auf die zivilisierten Völker angewandt, richtig, obgleich es auch da nicht wenige<br />

Ausnahmen gibt: Der „Löwenkopf“ erscheint keinem von uns als häßlich. Trotz solcher Ausnahmen<br />

kann man hier jedoch behaupten, daß der Mensch, weil er sich im Vergleich zu allen<br />

Verwandten aus dem Tierreich für ein unvergleichlich höheres Geschöpf hält, Angst hat, ihnen<br />

zu ähneln, und sich sogar bemüht, seine Unähnlichkeit mit ihnen besonders zu betonen,<br />

zu übertreiben. 1<br />

Angewandt auf die Urvölker, ist es entschieden unrichtig. Bekanntlich ziehen sich einige unter<br />

ihnen die oberen Schneidezähne aus, um Wiederkäuern zu ähneln, andere beschleifen sie,<br />

um Raubtieren zu gleichen, die dritten flechten ihre Haare so, daß sie die Form von Hörnern<br />

annehmen, und so fast bis ins Endlose. 2<br />

1 „In dieser Idealisierung der Natur ließ sich die Skulptur von Fingerzeigen der Natur selbst leiten; sie überhöhte<br />

hauptsächlich Merkmale, die den Menschen vom Tiere unterscheiden. Die aufrechte Stellung führte zu größerer<br />

Schlankheit und Länge der Beine, die zunehmende Steile des Schädelwinkels in der Tierreihe zur Bildung des<br />

griechischen Profils, der allgemeine, schon von Winckelmann ausgesprochene Grundsatz, daß die Natur, wo sie<br />

Flächen unterbreche, dies nicht stumpf, sondern mit Entschiedenheit tue, ließ die scharfen Ränder der Augenhöhle<br />

und der Nasenbeine sowie den ebenso scharfgerandeten Schnitt der Lippen vorziehen.“ Lotze, „Geschichte<br />

der Ästhetik in Deutschland“, München 1868, S. 568.<br />

2<br />

Der Missionar Heckewelder erzählt, daß er einmal zu einem bekannten Indianer kam, der sich gerade zum<br />

Tanze herrichtete, welcher bei den primitiven Völkern bekanntlich eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung<br />

hat. Der Indianer hatte sich das Gesicht auf folgende komplizierte Weise bemalt: „Wenn ich ihn im Profil von<br />

der einen Seite betrachtete, so stellte seine Nase einen sehr gut nachgeahmten Adlerschnabel dar. Schaute ich<br />

von der anderen Seite, so sah die gleiche Nase wie ein Schweinerüssel aus... Der Indianer war mit seiner Arbeit<br />

offensichtlich sehr [64] zufrieden, und da er auch einen Spiegel mitgenommen hatte, betrachtete er sich darin<br />

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